Das Schneemädchen (German Edition)
aus dem Wald. Und trotz dieses ewigen Geredes hatte Garrett nie auch nur eine Haarspitze von dem Wunderkind zu sehen bekommen. Jeden Winter hielt er nach ihren Spuren Ausschau und hoffte halb, sie zu entdecken, halb aber auch, dass Jack und Mabel eben doch einen Sprung in der Schüssel hatten. Manchmal glaubte er, im Unterholz etwas aufblitzen zu sehen, das sich dann aber doch nur als ein Vogel entpuppte.
Warum also war es in diesem Winter anders, warum war der Schnee im Wald, egal, wohin er sich wandte, mit ihren Spuren übersät, warum ließ sie ihn nicht los?
Alles, was mit dem Mädchen zu tun hatte, bescherte ihm Gewissensbisse. Er hatte ihren Fuchs geschossen und niemandem davon erzählt. Er hatte ihr nachspioniert. Immer wieder sah er in Gedanken ihren Kampf mit dem Schwan vor sich. Die Gefühle, die diese Szene in ihm entfachte, machten ihm zu schaffen, dennoch konnte er es nicht bleibenlassen.
Er sagte sich, er verfolge schließlich gar nicht sie, sondern sein eigentliches Ziel – die Berge, den Vielfraß. Und das stimmte ja auch. Vielfraße waren in den höheren Gebirgsregionen anzutreffen, näher am Gletscher. In den Niederungen mochte er Kojoten, Füchse, Biber und Nerze fangen, doch niemals einen Vielfraß.
Er folgte den Spuren bergauf und in eine enge Schlucht mit großen, unter Schnee versteckten Felsbrocken. Das Pferd strauchelte ein ums andere Mal, bis Garrett schließlich abstieg und es am Zügel führte. Der Wallach war zwar nicht mehr der Jüngste, aber zuverlässig und trittsicher und mit den Bergen vertraut wie nur wenige andere Pferde.
Garretts Fallen und Ketten klirrten in den Rupfensäcken, die er hinter den Sattel geschnallt hatte. Unter dem Schnee bahnte sich Wasser seinen Weg bergab zwischen den Felsbrocken hindurch. Garrett erwartete, jeden Moment die Abdrücke eines einsamen Vielfraßes zu entdecken, die an behäbige Bärentatzen erinnerten. Stattdessen sah er kleine, diesmal frischere Spuren. Wieder das Mädchen. Vermutlich von diesem Tag. Die Hände auf die Knie gestützt, blieb Garrett stehen und betrachtete die kaum sichtbaren Einbuchtungen im Schnee, wie von einem Luchs oder einem Schneeschuhhasen. Das Mädchen war fast so groß wie Garrett – wieso sank sie nicht in den Schnee ein? Die Frage verstörte und fesselte ihn zugleich, rumorte in seinen Eingeweiden. Er stampfte weiter, löschte die zarten Spuren mit seinen Stiefeln aus.
Sie war irgendwo in der Nähe, das spürte er. Es lag etwas in der Luft, genauso wie wenn er einem Elch nachstellte – mit einem Mal wurde es im Wald still, und seine Sinne schärften sich. Er spähte voraus und sah das Mädchen unmittelbar vor den Bäumen stehen, in dem blauen Mantel mit dem Schneeflockenmuster, die Haare fast schon geisterhaft hell. Er konnte natürlich umkehren, aber sicherlich hatte sie ihn ebenfalls bereits gesehen und wartete auf ihn. Er stieg weiter die Schlucht empor, mühte sich, die Schritte langsamer zu setzen, als sein Herz schlug.
Sie blieb regungslos und stumm, bis er auf wenige Meter an sie herangekommen war. Dann beäugte sie ängstlich das Pferd, doch bevor Garrett etwas sagen und sie beruhigen konnte, sprach sie zu ihm.
Du bist der, der meinen Fuchs getötet hat.
Einen Augenblick lang vermochte er seine Lippen nicht zu bewegen. Woher konnte sie das wissen?
Ja, würgte er schließlich heraus.
Warum bist du hergekommen?
Das Gleiche hätte er sie fragen können. Wieso sollte er sich ihr unterlegen fühlen?
Vielfraße, sagte er. Ich halte Ausschau nach Vielfraßen.
Hier?
An dem Bach hier muss es einen geben. Da bin ich mir sicher.
Das Mädchen drehte den Kopf von einer Seite zur anderen. Die Wut lähmte Garretts Herzschlag zu einem dumpfen, schwerfälligen Pochen.
Was weißt du denn schon?, fragte er. Kennst du vielleicht das ganze Tal in- und auswendig?
Sie nickte knapp.
Und das soll ich dir glauben?
Er machte Anstalten, sich an ihr vorbeizuschieben, da stieg ihm ihr Duft in die Nase. Sumpfporst, Holunder, Nesseln, frischer Schnee. So schwach, dass er unwillkürlich tiefer einatmete, um mehr davon einzufangen.
Das Mädchen kehrte ihm den Rücken zu und bückte sich. Im Schnee lag ein Bündel aus geflochtener Birkenrinde, das er erst jetzt bemerkte. Sie richtete es auf und zog etwas heraus, drehte sich wieder um und hielt einen toten Vielfraß an den Vorderpfoten: der Kopf dem eines kleinen Bären nicht unähnlich, der Leib kompakt, die Beine kurz und kräftig. Es war ein großes Tier, wohl knapp
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