Das Schneemädchen (German Edition)
noch ein Dreizehnjähriger gewesen, der unbedingt Marder fangen wollte und sich sonst nicht für allzu viel interessierte?
«Du wirst wohl recht haben, Mabel. Die Jahre sind an mir vorübergeflogen. Aber an deiner Stelle würde ich mir nicht zu viele Sorgen machen. Garrett ist keiner, der Mädchen nachstellt. Und was das Turteln angeht, damit hat es bei den beiden doch noch reichlich Zeit.»
«Nein, Jack. Da irrst du dich.»
«Wir waren fast doppelt so alt wie sie, als wir zusammenkamen.»
«Aber das war auch ungewöhnlich. Meine jüngste Schwester hat geheiratet, als sie so alt war wie Faina jetzt.»
Jack blickte auf seine kalten Bohnen und das Brot hinunter, das langsam hart wurde. Mabels Talent, stets den Teufel an die Wand zu malen, zermürbte ihn. Manchmal wünschte er sich schlicht, Bohnen und Brot essen zu können, solange sie noch warm und frisch waren, und die Sorgen Sorgen sein zu lassen.
«Es tut mir leid, Jack. Vielleicht ist ja auch gar nichts daran. Es erscheint mir nur gefährlich, dass sie so oft zusammen sind, ohne Aufsicht. Und ich finde Faina verändert, ohne dass ich genau erklären könnte, wie. Aber was können wir schon tun? Es steht uns nicht zu, Verbote auszusprechen. Schließlich ist sie nicht unsere Tochter, nicht wahr?»
Damit hatte sie ins Schwarze getroffen. Wie oft hatte er genau das zu ihr gesagt? Faina war nicht ihre Tochter. Sie konnten nicht über ihr Leben verfügen, sondern nur dankbar sein für jeden Moment, den sie mit ihr erlebten. Und das andere, dass Faina mit dem Jungen im Wald verschwand, das drückte, wie ein Kieselstein im Schuh. Der anfangs nur lästig ist und mit der Zeit jeden Schritt zur Qual macht.
Tagelang dachte Jack an wenig anderes. Als jungem Mann hatte ihm der Sinn nicht nach Mädchen gestanden. Während seine Freunde sich an den Wochenenden für Tanzveranstaltungen herausputzten, hatte er die Abende lieber damit zugebracht, an einem Stück Holz herumzuschnitzen oder sich um eine trächtige Stute zu kümmern. Gewiss, er hatte das eine oder andere Mädchen hinter der Scheune geküsst, aber nur, wenn er mehr oder weniger dazu gedrängt wurde, und er fragte sich oft, was an Mabel so anders war, was seine Aufmerksamkeit geweckt und festgehalten hatte. Sie war still und sanft und nachdenklich und zeigte zunächst kein Interesse an ihm. Mit der Zeit jedoch fassten sie eine Zuneigung füreinander, die gleichfalls still und sanft war und sich mitunter in Zurückhaltung übte.
So, hatte er gedacht, würde es auch Garrett ergehen. Esther hatte einmal gewitzelt, die Frau müsse erst noch geboren werden, die willens wäre, es mit diesem eigensinnigen Burschen aufzunehmen. Seine großen Brüder stürzten sich in Ehen mit hübschen, lachlustigen Mädchen, Garrett hingegen blieb lieber für sich. Jack nahm an, irgendwann, vielleicht erst in etlichen Jahren, würde eine Frau mit einem gänzlich anders gearteten Temperament des Weges kommen und sich als die ideale Gefährtin für Garrett erweisen.
Aber Faina? Unmöglich. Ganz gleich, wie alt sie tatsächlich sein mochte, sie war kindlich rein, zart und zerbrechlich. Garrett hatte zu viel Anstand im Leib, um daran zu rühren.
Doch Jack beobachtete die zwei – sah, wie sich ihre Arme streiften, wenn sie miteinander redeten, wie innig sie sich beim Abschied die Hände drückten. Eines Abends im Bett rückte Mabel mit der Neuigkeit heraus; in ihrer Stimme schwang eine gewisse Genugtuung, gepaart mit Schrecken.
«Faina geht nicht fort. Sie sagt, sie will den Sommer über hierbleiben.»
«Was?»
«Du hast schon richtig gehört. Sie geht nicht fort, wenn der Schnee schmilzt.»
«Aber wieso?»
«Das fragst du noch?»
«Was hat sie dir erzählt?»
«Sie sagt, Garrett will mit ihr auf Lachsfang gehen und in der Tundra Karibus jagen. Sie wird den ganzen Sommer dableiben.»
Jack vermochte nicht mit Bestimmtheit zu sagen, warum ihn das aus der Bahn warf. Hatten sie es sich nicht immer so gewünscht? Dass das Mädchen rund ums Jahr bei ihnen war und sie sich in den langen Sommermonaten keine Sorgen um sie machen mussten? Und doch sträubte sich etwas in ihm. Er vermisste sie, wenn sie fort war, aber er wusste sie lieber in den verschneiten Bergen, geschützt vor der Hitze und der Mückenplage im Flusstal.
«Ist dir klar, was das bedeutet, Jack?»
Er gab keine Antwort.
Die Sonne kam, und der Schnee begann herabzutröpfeln, erst von den Dachvorsprüngen und Zweigen, dann auch von den Berghängen. Auf einen Schlag wurde
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