Das Schneemädchen (German Edition)
Gletscher, eingebettet zwischen weißen Bergen. Über die vielen Meilen hinweg schienen die zerklüfteten Eistürme im Sonnenlicht zu flimmern wie eine Luftspiegelung, nah und fern, wirklich und unwirklich zugleich.
Komm!, rief Faina und schoss mit dem Hund davon, über verharschte Schneewehen zu einer Weidengruppe am Flussufer. Garrett mühte sich, ihr auf den Fersen zu bleiben, vermochte sich aber nicht so leicht einen Weg zwischen den mit Raureif überkrusteten Weiden hindurch zu bahnen. Er stolperte durch das Unterholz und sah das Mädchen erst, als sie plötzlich vor ihm stand. Sie hatte den Arm um einen Weidenast gehakt, der sich unter ihrem Gewicht leicht bog. Durch die glitzernden Zweige beugte sie sich vor und betrachtete Garrett mit einem Blick, aus dem er nicht klug wurde. Dann beugte sie sich noch näher zu ihm hin, und er spürte ihren Atem kühl auf seiner Haut. Wie ein verschreckter Schneeschuhhase verharrte Garrett reglos, bis ihre Lippen sich auf seine legten.
Ihre Wangen fühlten sich so glatt und kalt an, und er schmeckte den Duft, der ihn schon den ganzen Winter lang verfolgte – Bergkräuter und nasses Gestein und frischen Schnee. Zögerlich legte er die Arme um sie und zog sie näher an sich. Er schüttelte einen Handschuh ab und strich ihr mit der bloßen Hand übers Haar – danach, ging ihm jetzt auf, sehnte er sich seit dem Tag, an dem er ihr zum ersten Mal begegnet war, dem Tag, an dem sie den Schwan getötet hatte. An den seinen gepresst, spürte er ihren Körper, zart und doch fest, lebendig und kühl, mit nichts vergleichbar, was er kannte.
Du bist warm, flüsterte sie an seinen Lippen.
Garrett ließ seinen Mund über ihr Kinn zum Hals hinunter und weiter zu ihrem Ohr gleiten, dorthin, wo ihr blondes Haar in weiche Haut überging, und glaubte zu vergehen. Zu vergehen in ihrer blassen Glätte, ihren sanften Fingern, ihren großen blauen Augen.
Es drängte ihn, auf die Knie zu sinken und Faina mit sich hinunter in den Schnee zu ziehen, doch er blieb stehen, hielt ihre Taille und ihren Nacken umfasst, schmiegte das Gesicht an ihren Hals.
Sie war es – sie ließ die Hände nach oben wandern und nestelte an den feinen Silberknöpfen ihres Mantels.
Nein, nein, murmelte Garrett.
Warum nicht?
Dir wird zu kalt sein.
Sie sagte nichts mehr, knöpfte nur weiter ihren Mantel auf. Garrett schüttelte auch den anderen Handschuh ab und schob die Hände unter den Wollstoff; mit seiner rissigen Haut blieb er an dem Seidenfutter hängen. Erschauernd fühlte er, wie Schuldbewusstsein ihn durchströmte und ihm sagte, dass es nicht recht war, was sie da taten, doch es war zu spät. Er spürte ihren zarten Rippenbogen, ihr pochendes Herz und war verloren.
Kapitel 45
«Ich mache mir Sorgen, Jack.»
Er hatte es kommen sehen – so wie Mabel den ganzen Tag schon aus dem Fenster starrte, sich auf die Unterlippe biss, beim Fegen und Waschen vor sich hin seufzte. Warum sie immer bis zur Essenszeit wartete, um ihre Kümmernisse kundzutun, hatte er nie begriffen.
«Hmmm?» Er lud sich Bohnen auf den Teller.
«Ich mache mir Gedanken um die Kinder … nun, das ist es ja eben, nicht wahr? Sie sind keine Kinder mehr. Ein junger Mann und eine junge Frau, sollte ich wohl besser sagen.»
«Hmm.»
«Hörst du mir eigentlich zu, Jack?»
Er bestrich eine Brotscheibe mit Butter, nickte aber pflichtschuldig.
«Ja, also … sie scheinen wirklich ein Herz und eine Seele zu sein, oder was meinst du? Sie verbringen so viel Zeit miteinander, nur zu zweit, und ich weiß nicht recht, ob sich das gehört. In Anbetracht ihres Alters.»
«Hmm.»
«Jack, Herrgott noch mal. Weißt du überhaupt, von wem ich rede? Hörst du auch nur ein Wort von dem, was ich sage?»
Er legte Messer und Gabel ab und sah Mabel an.
«Bin ich vielleicht gerade beim Abendessen oder nicht?»
«Entschuldige. Es ist nur … es ist wegen Garrett und Faina. Ich habe das Gefühl, sie sind vielleicht, nun ja …»
«Was denn?»
«Ist es dir denn nicht aufgefallen? Wie viel Zeit sie miteinander verbringen? Wie sie immer Arm in Arm gehen?»
«Sie sind doch noch blutjung. Es tut ihr gut, einen Freund gefunden zu haben.»
«Aber Jack, sie sind ja eben keine Kinder mehr. Siehst du das nicht? Faina muss mittlerweile sechzehn oder siebzehn sein, und Garrett ist fast neunzehn.»
Es verblüffte ihn, wie die Zeit vergangen war. Als Faina zum ersten Mal an ihre Tür klopfte, hatte ein kleines Kind vor ihnen gestanden, und war Garrett nicht eben
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