Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
Vom Netzwerk:
es Frühling, und unter Donnerkrachen brach der Eispanzer des Flusses. Zu Mabel sagte Jack, er wolle sich die dahintreibenden Eisschollen ansehen, in Wahrheit aber ging er den beiden nach. Garrett nächtigte bereits im Stall, obwohl die Pflanzzeit noch lange nicht gekommen war, und an diesem Morgen war der Junge schon früh auf und erwartete Faina und den Hund auf dem Hof. Sie kamen nicht einmal zum Blockhaus, um Jack und Mabel guten Morgen zu sagen oder sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, sondern verzogen sich ohne jede Verabschiedung hinunter an den Fluss.
    «Ich bin bald wieder da», sagte Jack und wich Mabels Blick aus. Den ganzen Morgen schon wirkte sie bedrückt, sprach kaum und strich still durchs Haus. Als er seine Arbeitsjacke anzog, nahm sie seine Hand und schaute ihn an, als wollte sie etwas sagen, küsste ihn aber nur auf die Wange.
    Der Hof und der Hauptweg waren verschlammt, doch auf dem Pfad, der sich zwischen Fichten zum Fluss hinunterschlängelte, ging es sich angenehmer. Hier war der Boden trocken, das Moos von Wurzeln durchzogen. Über Jacks Kopf fiepte ein Eichhörnchen, das er in dem schräg einfallenden Licht nicht erkennen konnte. Hier und da deckten noch Schneereste den Boden. Winzige Hartriegelblätter und Farnspitzen sprossen aus der feuchten Erde. Bald hörte er das Tosen des Flusses und sah im Näherkommen die ersten silbrig weichen Weidenkätzchen am Baum. Er wollte ein paar Zweige für Mabel abbrechen, entsann sich dann seiner bitteren Pflicht und ging weiter.
    Er hoffte, die beiden am Ufer zu finden, wo sie vielleicht Steine auf morsches Flusseis warfen oder dem Hund einen Stock aus dem Maul zu winden versuchten. Doch dort waren sie nicht, also folgte er dem Pfad am Fluss entlang und durch das Weidengestrüpp, bis er hinauf in einen anderen Fichtenwald führte. Hier waren die Bäume höher und standen dichter, alles schien gedämpft, in Schatten getaucht. Jack hielt den Blick gesenkt, um nicht über Wurzelwerk zu stolpern, und erspähte zwischen Moos und Fichtennadeln ein Büschel kleiner rosafarbener Blumen. Feenschuhe – so hatte Mabel sie genannt, als er ihr einmal ein Sträußchen von diesen wilden Frühlingsorchideen brachte, und ihn dann ausgeschimpft, weil sie selten waren und mit jeder von ihm gepflückten Blüte eine ganze Pflanze zugrunde ging.
    Er umrundete die Blumen. Der Pfad verlor sich, doch hie und da hörte Jack Stimmen. Er hätte rufen, sich bemerkbar machen können, aber wozu wäre das gut gewesen. Schließlich wollte er ihnen nachspionieren, auch wenn es ihm zuwider war.
    Er fand sie, auf ihren Mänteln liegend, halb versteckt unter einem der größten Bäume. Es war ein wunderschöner Platz; die Sonne schien durch die Nadelzweige und sprenkelte den Boden, und es duftete frisch und würzig nach Fichten. Er spähte durch die Bäume nur eben lange genug hin, um seinen Augen zu trauen, dann wandte er sich ab und mühte sich, blind vor Scham und Wut, den Heimweg zu finden.

    Jack schien schon schrecklich lange fort zu sein, und Mabel konnte nicht mehr zählen, wie oft sie vor dem Fenster auf und ab gegangen war. Statt ihm davon zu erzählen, hätte sie ihr Unbehagen beiseiteschieben und ganz offen mit dem Mädchen selbst sprechen sollen. Nun war es zu spät, der Fehler nicht wiedergutzumachen.
    Als Jack zum Gehöft zurückkehrte, fiel ihr zunächst ein Stein vom Herzen. Er war allein. Dann bemerkte sie, wie bolzengerade er zum Stall marschierte, gegen die Tür trat, aber nicht hineinging, sondern sie wieder zuschlug und sich um sich selbst drehte, als wüsste er nicht, wohin mit sich. Er ging zum Holzstoß und nahm den Spalthammer zur Hand. Großer Gott, dachte sie, er will ihn umbringen. Doch er begann, Kloben zu spalten, einen nach dem anderen, und das erschreckte sie fast genauso. Das Holz, das Garrett im vergangenen Winter klein gehackt und geschichtet hatte, würde ihnen auf Jahre hinaus reichen. Jack kam nicht einer Pflicht nach – er ließ seiner Wut freien Lauf. Sie wäre gern zu ihm gegangen, hätte ihm von der aufrichtigen Zuneigung erzählt, die aus Garretts Miene sprach, oder dass sie gesehen hatte, wie das Mädchen ihn am Arm mit sich zog. Erst jetzt wurde ihr klar, dass Jack zwar immer wieder darauf pochte, Faina sei nicht ihre Tochter, diese Angelegenheit aber dennoch mit den Augen eines Vaters sah.
    Mabel bekam nicht mit, wann Garrett aus dem Wald zurückkehrte, doch als das rhythmische Krachen und Splittern von Holz verstummte, schaute sie aus dem

Weitere Kostenlose Bücher