Das Schneemädchen (German Edition)
wenn man dann Schneehühner isst?»
Sie sah Mabel an, als erwarte sie eine Antwort.
«Ich … Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Ich wüsste nicht, dass ich schon mal ein Schneehuhn gegessen hätte.»
«Schmeckt ja ganz gut. Aber zu Erntedank muss es für mich Truthahn sein, fertig.»
«Ich habe Kuchen mitgebracht. Zum Nachtisch. Ich habe sie dort auf den Stuhl gestellt. Ich wusste nicht recht, wohin damit.»
«Großartig! Ich hatte keine Zeit, an was Süßes auch nur zu denken. George sagt, es ist schwachsinnig von Betty, auf deine Kuchen zu verzichten. Er schwärmt davon. Nicht, dass er sie nötig hätte. Hast du die Wampe von dem Mann gesehen?»
Wieder sah sie Mabel erwartungsvoll an.
«Oh, das würde ich nicht …»
Esthers schallendes Gelächter ließ Mabel zusammenfahren.
«Ich sag ihm immer, er allein hält dieses Lokal am Laufen, und das sieht man ihm langsam an», sagte sie.
Es kam Mabel vor, als sei sie durch ein Loch in eine andere Welt gefallen. Diese hatte nichts gemein mit ihrer stillen, wohlgeordneten Welt aus Dunkelheit und Licht und Schwermut. Diese hier war unaufgeräumt, aber anheimelnd und mit Lachen erfüllt. George machte sich über die beiden Frauen lustig, die redeten «wie ein Wasserfall», statt sich ums Essen zu kümmern. Es war längst Abend geworden, als das Mahl aufgetragen wurde, doch das schien niemanden zu stören. Der Truthahn war außen trocken und innen halb roh. Jeder musste sein Stück vorsichtig auswählen und abschneiden. Die Soße war klumpig. Der Kartoffelbrei war cremig und perfekt gelungen. Esther entschuldigte sich für nichts. Zum Essen balancierten sie ihre Teller auf dem Schoß. Niemand sprach ein Tischgebet, aber George hielt sein Glas in die Höhe und sagte: «Auf unsere Nachbarn. Und darauf, dass wir durch den nächsten Winter kommen.» Alle hoben die Gläser.
«Und darauf, dass wir nächstes Jahr Schneehühner essen», sagte Esther, und alle lachten.
Nach dem Kuchen erzählten die Bensons Geschichten aus ihrer Zeit auf dem Hof, davon, wie einmal so hoch Schnee gelegen hatte, dass die Pferde ganz nach Belieben Zäune überschreiten konnten, von solcher Kälte, dass das schmutzige Spülwasser beim Ausschütten gefroren war.
«Aber ich möchte nirgends anders auf der Welt leben», sagte Esther. «Und ihr? Kommt ihr beide von einer Farm im Süden?»
«Nein. Aber Jacks Familie besitzt eine Farm am Allegheny in Pennsylvania.»
«Was wird da angebaut?», fragte George.
«Äpfel und Futtergras vor allem», sagte Jack.
Esther wandte sich an Mabel. «Und du?»
«Ich bin vermutlich das schwarze Schaf. Niemandem in meiner Familie würde es einfallen, auf einer Farm zu leben oder nach Alaska zu ziehen. Mein Vater war Literaturprofessor an der Universität von Pennsylvania.»
«Und das hast du alles aufgegeben, um hierherzukommen? Was hast du dir dabei gedacht, um Gottes willen?» Esther stieß Mabel schelmisch mit dem Ellenbogen an. «Er hat dich überredet, was? So ist es oft. Die Männer schleppen ihre armen Frauen mit ins Abenteuer im fernen Norden, dabei wünschen die sich nichts weiter als ein heißes Bad und eine Haushälterin.»
«Nein, nein. So war es nicht.» Alle Blicke richteten sich auf sie, sogar Jacks. Sie zögerte, fuhr dann aber fort: «Ich wollte hierherkommen. Jack auch, aber letztendlich habe ich ihn dazu gedrängt. Warum, weiß ich selbst nicht so genau. Ich glaube, wir hatten eine Veränderung nötig. Wir mussten etwas für uns selbst tun. Hört sich das einleuchtend an? Den eigenen Boden bestellen und wissen, dass er einem voll und ganz gehört. Nichts für selbstverständlich halten. Alaska schien uns der richtige Ort für einen Neuanfang zu sein.»
Esther grinste. «Du hast es nicht schlecht getroffen mit ihr, was, Jack? Posaun das bloß nicht herum. Solche wie sie gibt’s nicht viele.»
Obwohl Mabel nicht aufblickte, wusste sie, dass Jack sie beobachtete, und sie errötete. Sie sprach selten so, wenn auch Männer anwesend waren. Vielleicht hatte sie zu viel gesagt.
Als um sie herum andere Gesprächsthemen aufkamen, überlegte sie, ob sie die Wahrheit gesagt hatte. Waren sie deshalb in den Norden gekommen – um eine Existenz aufzubauen? Oder war sie von Angst getrieben worden? Angst vor dem Grau, nicht nur in ihren Haarsträhnen und welkenden Wangen, sondern dem Grau, das tiefer reichte, bis ins Mark, sodass sie dachte, sie könne sich jeden Moment in feinen Staub verwandeln und einfach mit dem Wind fortrieseln.
Mabel
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