Das Schneemädchen (German Edition)
Baby», sagte er.
«Aber Jack … ich begreife das nicht.»
«Nein?»
«Sie ist fort?»
Er nickte.
«Aber wohin?»
Ohne ein weiteres Wort verließ er das Blockhaus.
Als der Kleine wach wurde und schreiend nach der Milch seiner Mutter verlangte, wusste Mabel nicht aus noch ein. Sie nahm ein sauberes Tuch, tauchte den Zipfel in warmen, süßen Tee und steckte ihn dem Jungen in den Mund. Er saugte, was das Zeug hielt, drehte dann den Kopf weg und plärrte. Sie ging vor dem Fenster mit ihm auf und ab, bis er sich wieder in den Schlaf geweint hatte, und sah noch immer kein Laternenlicht, keine Spur von Garrett oder Jack. Sie setzte sich, wiegte sich mit dem schlafenden Kind auf dem Stuhl hin und her und betete, die Nacht möge nichts als ein böser Traum sein. Doch dann kam Jack zur Tür herein und schwieg. Hinter ihm dämmerte fahles Winterzwielicht herauf. Sie hob fragend die Brauen, und er schüttelte den Kopf.
«Nichts?»
«Nicht einmal Fußspuren.»
«Wo ist Garrett?»
«Er will nicht ins Haus kommen. Sagt, er wird sie finden. Er sattelt gerade das Pferd.»
«Ach Gott, Jack. Was haben wir getan?»
Wortlos schnürte er die Stiefel auf und klaubte sich Schnee und Eis aus dem Bart. Nachdem er das Feuer geschürt hatte, bedeutete er Mabel, ihm das Baby zu geben. Überrascht erhob sie sich und ließ das Bündel sanft in seine Arme gleiten. Jack wickelte das Kind fester in die Decke und fuhr mit einem Finger über seine Wange; so tief neigte sein Kopf sich über das Neugeborene, dass Mabel die Tränen nicht gleich sah, die ihm aus den Augen rannen.
«Jack?» Mabel umfing sein Gesicht mit beiden Händen. «Ach, Jack.» Sie nahm ihm das Baby ab, legte es in die Wiege und schaukelte es sacht, bis sie sicher war, dass es weiterschlief. Sie stand auf und wandte sich zu Jack um, drückte ihr Gesicht an seine Brust, und so hielten sie einander eine Weile umfangen.
«Sie ist fort, nicht wahr?»
Jack nickte, mit zusammengebissenen Zähnen, als schmerzte ihn jede Faser im Leib.
Der Kummer erfasste Mabel mit solcher Macht, dass sie nur schluchzen konnte, ohne einen Ton, ohne ein Wort, geschüttelt von einer Qual, die zu überleben sie für unmöglich gehalten hätte, wenn sie ihr nicht schon einmal widerfahren wäre. Sie weinte, bis ihr Inneres hohl und leer war, wischte sich mit den Fingerspitzen übers Gesicht und setzte sich auf den Stuhl, in der Erwartung, dass Jack hinausgehen und sie allein lassen würde. Doch er kniete sich vor sie, legte seinen Kopf in ihren Schoß, und sie hielten einander, teilten das Leid eines alten Mannes und einer alten Frau um den Verlust ihres einzigen Kindes.
Vielleicht war es nur der Wind oder ihr eigener furchtbarer Kummer, doch Mabel glaubte mit Gewissheit, Garretts Stimme zu hören. Manchmal klang es wie ein Schrei, unten am Fluss, dann wieder wie ein tiefer, klagender Ruf, der aus den Bergen selbst aufzusteigen schien.
In dieser Nacht blieben sie und Jack bei dem Baby und warteten, dass Garrett heimkam. Mabel döste neben der Wiege, in der das Kind friedlich schlief, fuhr aber immer wieder mit einem Ruck hoch.
«Hast du das gehört?»
Jack stand neben dem Ofen, das Gesicht abgezehrt und verhärmt.
«Was war das?», hakte sie nach.
«Wölfe, denke ich.»
Doch sie wusste es besser. Es war Garrett auf seinem Ritt, seiner Suche in der Nacht, es war sein Ruf in den sternenlosen Himmel. Faina. Faina. Faina.
Epilog
«Hallo. Jemand zu Hause?» Jack klopfte an die Tür des Blockhauses und schob sie dann langsam auf. «Hallo?» Auf seinen Stock gestützt trat er über die Schwelle, blieb dort einen Moment stehen und lauschte in die Stille. Eigentlich war er an diesem Herbsttag auf der Suche nach Garrett und stieß nun unvermutet auf Erinnerungen. Da, auf einem Bord beim Ofen, war Fainas Porzellanpuppe, die blonden Haare immer noch zu adretten Zöpfen geflochten, das Kleid noch so prächtig blau und rot wie an dem Tag, als Jack die Puppe auf einen Baumstumpf gesetzt und gerufen hatte: «Die ist für dich. Ich weiß nicht, ob du da bist und ob du mich hören kannst, aber wir möchten dir das hier schenken.»
Jack verweilte auf der Schwelle und ließ den Blick schweifen. Ordentlich zusammengelegt hing über der Armlehne eines Stuhls die Wolldecke, die Mabel aus Fainas Kindermantel genäht hatte. Dann sah Jack an der gegenüberliegenden Wand eine Reihe von Fotografien; er vergaß, die Tür hinter sich zu schließen, und merkte nicht einmal, dass er durch den Raum zu ihnen
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