Das Schneemädchen (German Edition)
Mabel fürchtete sich nicht. Sie fühlte sich alt und stark wie die Berge und der Fluss. Sie würde heimfinden.
Mabel erwachte mit jagendem Puls, saß im nächsten Moment kerzengerade im Bett und versuchte zu ergründen, was sie aufgeschreckt hatte.
«Mabel? Bist du wach? Ich bin’s, Garrett.» Ein heiseres Flüstern von der Tür der Schlafkammer her.
Mabel kletterte über Jack hinweg, zog einen Pullover über ihr Nachthemd und ging in den Wohnraum. Mitten in der Nacht von irgendjemandem aus dem Schlaf gerissen zu werden, hätte sie so oder so in Aufruhr versetzt, doch bei Garretts Anblick spürte sie, wie ihr Herz erbebte und schwer wurde.
«Entschuldige, dass ich dich wecke …»
Mabel brachte Garrett mit erhobener Hand zum Schweigen. Ihr war schwach und schwindlig zumute.
«Ich muss mich hinsetzen.»
Garrett zog einen Stuhl unterm Tisch hervor und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
«So. Lass mich einmal durchatmen.» Sie saß stumm da und hätte es zu gern noch eine Weile dabei belassen, die Wahrheit auf Armeslänge von sich weggehalten. Doch schließlich holt sie tief Luft und sagte: «Ja? Faina?»
«Es geht ihr nicht gut», sagte Garrett. In diesem Moment kam Jack aus der Schlafkammer.
«Was ist? Was geht hier vor?»
«Schscht. Er will es ja gerade erzählen. Sprich weiter, Garrett.»
«Sie war schon den ganzen Tag so ruhelos und gar nicht sie selbst. Ist immer wieder hinausgegangen, obwohl es so kalt ist. Ich hab versucht, sie aufzuhalten, aber umsonst. Ich hätte …»
«Und nun?» Mabel bemühte sich, dem jungen Mann auf die Sprünge zu helfen.
«Es ging ihr immer schlechter. Sie hat gesagt, sie hätte Schmerzen, und als ich gefragt habe, wo, hat sie gesagt, überall, und ihre Wangen waren ganz rot. Sie wollte nichts essen, nur noch ins Bett. Aber sie hat das Baby gestillt, und sie sind beide eingeschlafen, deshalb habe ich mir gedacht, ich warte bis zum Morgen und schaue, wie es ihr dann geht. Aber jetzt, vorhin, habe ich mich im Bett umgedreht und bin an ihren Arm gekommen, und sie ist glühend heiß.»
«Sie hätte das Baby besser im Krankenhaus entbunden. Wir hätten sie nach Anchorage bringen sollen», sagte Jack.
«Sie wollte aber nicht dorthin», erinnerte Mabel ihn. Sie ging in die Schlafkammer und zog sich bei Kerzenlicht an. Als sie zurückkam, saß Garrett, das Gesicht in den Händen vergraben, auf einem Küchenstuhl. Die Uhr zeigte kurz nach Mitternacht an.
«Wo ist der Kleine?»
«Er schläft, in der Wiege, da habe ich ihn dort gelassen. Ich wusste nicht recht, was ich tun sollte, ob es klug wäre, ihn durch die Kälte hierher zu tragen.»
«Das hast du ganz richtig gemacht.»
«Morgen früh bringen wir sie auf der Stelle nach Anchorage», sagte Jack und schnürte sich schon die Stiefel.
«Wenn der Zug fährt. Wenn die Gleise frei sind», sagte Mabel und sah dann die Angst in Garretts Miene. «Wir tun alles, was wir nur können. Wenn wir es nicht schaffen, sie morgen nach Anchorage zu bringen, können wir zumindest ein Telegramm ans Krankenhaus schicken und einen Arzt um Rat bitten. Es wird schon wieder gut, Garrett. Und jetzt gehen wir und kümmern uns um sie und um euren Kleinen.»
Unterwegs suchte Mabel sich für das zu wappnen, was ihr bevorstand, und es überkam sie die gleiche ruhige Bestimmtheit wie damals, als Jack sich am Rücken verletzt hatte. Im Blockhaus fanden sie das Baby schlafend in der Wiege und Faina im Bett vor. Garrett sorgte sich zu Recht: Faina lag zusammengerollt auf der Seite, hatte die Arme um sich geschlungen und stöhnte leise. Als sie sich auf den Rücken drehte, sah Mabel, dass ihr Schweißtröpfchen über die Schläfen rannen und ihr Haar durchfeuchteten; ihre Haut war hochrot und fleckig. Mabel ging zum Bettrand und legte Faina eine Hand auf die Stirn. Sie fühlte sich unnatürlich warm an. Die Augen geschlossen, die Hand immer noch auf Fainas Stirn, spürte Mabel brennend heiße Finger um ihr Handgelenk und hörte ein Wispern aus trockener Kehle.
Mabel? Du bist hier?
Sie öffnete die Augen. Faina klammerte sich an sie. Was Mabel zuerst als Rinnsale von Schweiß auf ihren Wangen angesehen hatte, erkannte sie schließlich als Tränen. Faina weinte.
Was ist mit mir los?
Schsch. Hab keine Angst, Kind. Wir machen dich schon wieder gesund.
Was ist das für eine Krankheit?
Eine Entzündung, in deinem Blut. Daher kommt das Fieber. Aber es gibt eine Medizin, wenn du die nimmst, geht es dir bald wieder besser.
Ich gehe nicht ins
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