Das Schneemädchen (German Edition)
hinüberging. Die meisten zeigten Garrett mit seinen Brüdern und Esther und George am Tag ihrer Hochzeit. Doch auf der, die seinen Blick anzog, war eine Frau mit einem in eine Decke gehüllten Säugling abgelichtet. Diese Fotografie hatte Jack bisher nur ein einziges Mal gesehen, vor fast fünfzehn Jahren, in einer Hütte, die sich in eine Bergflanke schmiegte. Der Säugling war Faina.
Irgendwo in dem Blockhaus lagen sie zusammengefaltet in einer Truhe oder hingen im Schrank: ein befiedertes Hochzeitskleid und ein blauer, mit Schneeflocken bestickter Wollmantel. Sicherlich hatte Garrett sie aufgehoben, so wie er auch diese anderen Erinnerungsstücke an ihr Leben aufbewahrte. Aber wie wenig doch von ihr geblieben war, dachte Jack bestürzt, als er sich in dem Häuschen umsah. Das bisschen war alles, was Faina an irdischem Hab und Gut zurückgelassen hatte.
Die Trauer kam und ging, wie sie wollte. Mit den Jahren milderte sie sich, doch manchmal überfiel sie ihn immer noch aus heiterem Himmel. Wie an dem Abend vor ein paar Wochen, als ihm das blaue, ledergebundene Buch im Regal ins Auge stach. Es stand immer da, und tagtäglich war sein Blick darüber hinweggeglitten. Bestimmt hatte es seit Jahren niemand mehr aufgeschlagen. All ihre Bücher hatte Mabel Garrett zum Lesen mitgegeben, doch nie dieses. Garrett wusste sicher gar nicht, dass es existierte, und weder Jack noch Mabel brachten je das Gespräch darauf.
Mabel war in der Schlafkammer und bürstete sich die Haare, als er das Buch zwischen den anderen herauszog und, am Regal stehend, durchblätterte. Er legte den Finger auf das farbige Bild der Märchengestalt, halb Schnee, halb Kind, neben der die alte Frau und der alte Mann knieten. Als Blätter aus dem Buch zu Boden regneten, glaubte er zunächst, die Bindung beschädigt zu haben. Nach einem raschen Blick über die Schulter zur Schlafkammer sammelte er sie rasch auf. Es waren keine Seiten aus dem Buch, sondern Mabels Skizzen; er betrachtete sie eine nach der anderen und staunte, wie gekonnt und genau sie gezeichnet waren.
Fainas zartes Kindergesicht, umrahmt von ihrer Marderfellmütze. Faina bei ihnen am Küchentisch, das Kinn auf die Hände gestützt. Dann die Zeichnungen von Faina als junger Frau mit einem Neugeborenen an der Brust. Studien, jede aus einem anderen Blickwinkel, manche aus der Nähe, andere von weiter weg. Fainas Hand auf dem schlafenden Kind. Die winzige Faust des Säuglings. Geschlossene Augen. Offene Augen. Mutter. Kind.
In den weichen Bleistiftstrichen war etwas festgehalten, das er gespürt hatte, aber niemals hätte ausdrücken können. Eine Fülle, ein warmes, gewichtiges Leben, das sich in ihren letzten Tagen in Faina eingenistet hatte, und eine allumfassende Zärtlichkeit, die sich wie goldenes Sonnenlicht auf ihren kleinen Sohn ergoss.
Als Mabel nach ihm rief und fragte, wann er ins Bett käme, hatte er die Zeichnungen sorgsam zusammengefaltet in das Buch zurückgesteckt und es wieder aufs Regal gestellt, wo es blieb, ohne Erwähnung zu finden.
Plötzlich wurde Jack bewusst, dass er uneingeladen mitten in Garretts Blockhaus stand.
«Garrett?», rief er noch einmal, obwohl er schon wusste, dass keine Antwort erfolgen würde. Er ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Gestützt auf seinen Stock, war er erst ein kurzes Stück auf dem Pfad dahingeschlurft, als er den Jungen durch die Bäume rufen hörte.
«Opapa! Opapa!»
Jay lief auf ihn zu, gefolgt von dem etwas schwerfälliger dahintappenden Hund. Fainas Husky streifte, nach wie vor namenlos, frei zwischen den beiden Blockhäusern hin und her, und wann immer ihr Sohn sich draußen aufhielt, war er an seiner Seite.
«Opapa! Schau, was ich gefangen habe.» Der Junge hielt einen Weidenzweig hoch, an dem eine kleine, staubig graue Äsche hing.
«Du hast die gefangen?»
«Omama hat mir geholfen. Aber den Haken hab ich ganz allein drangemacht.»
«Gut gemacht. Wirklich gut.»
«Und Omama hat gesagt, dass wir sie heute Abend essen können.»
Jack nahm dem Jungen die Rute ab, auf die der Fisch gefädelt war, und musterte ihn.
«Wenn ich mich recht erinnere, wollen Großpapa George und Großmama Esther auch zum Abendessen kommen.»
«Und Papa?»
«Und dein Vater ebenfalls.»
«Hast du ihn gefunden?»
«Nein. Er ist noch auf seinem Ausritt. Aber er kommt sicher bald heim.»
«Er ist gern in den Bergen, stimmt’s? Er reitet ganz oft dahin. Er hat gesagt, dieses Jahr kann ich mit ihm zu seiner langen Fallenstrecke
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