Das Schneemädchen (German Edition)
sich das letzte Mal so absichtlich angesehen hatten. Der Augenblick war wie der Schnee, langsam und schwebend.
Als sie frisch in Jack verliebt gewesen war, hatte Mabel geträumt, dass sie fliegen konnte, dass sie sich in einer warmen, tintenschwarzen Nacht mit nackten Füßen vom Gras abstieß und im Nachthemd zwischen den belaubten Baumwipfeln und den Sternen schwebte. Diese Empfindung hatte sie jetzt wieder.
Vom Fenster aus mutete die Abendluft dicht an, jede Schneeflocke verlangsamt auf ihrem langen, taumelnden Fall durch die Schwärze. Dies war die Art von Schnee, die Kinder aus der Tür laufen, die Zunge herausstrecken, das Gesicht himmelwärts wenden und sich mit ausgestreckten Armen im Kreis drehen ließ.
Sie stand wie gebannt da in ihrer Schürze, einen Putzlappen in der Hand. Vielleicht lag es an der Erinnerung an jenen Traum oder an der hypnotischen Kraft der wirbelnden Schneeflocken. Vielleicht lag es an Esther in ihrer Arbeitshose und geblümten Bluse, Esther, die Bären erschoss und lauthals lachte.
Mabel legte den Lappen weg und band die Schürze ab. Sie schob die Füße in ihre Stiefel, zog einen von Jacks Wollmänteln an und kramte eine Mütze und Fäustlinge hervor.
Die Luft draußen war rein und kalt auf ihrem Gesicht, und sie roch den Holzrauch aus dem Schornstein.
Der Schnee schwebte um sie, und da tat Mabel, was sie als Kind getan hatte – sie wandte das Gesicht zum Himmel und streckte die Zunge heraus. Das Wirbeln über ihr war schwindelerregend, und sie fing an, sich langsam auf der Stelle zu drehen. Schneeflocken landeten auf ihren Wangen und Augenlidern, nässten ihre Haut. Dann hielt sie an und sah zu, wie sich Schnee auf ihren Mantelärmeln niederließ. Einen Moment lang betrachtete sie das Muster einer einzigen sternförmigen Flocke, bevor sie auf dem Wollstoff schmolz. Kaum da und schon vergangen.
Rund um ihre Füße wurde der Schnee höher. Sie trat leicht dagegen, und er pappte, nass und schwer. Schneeballschnee. Sie nahm eine Faustvoll in die bloße Hand. Der Schnee war fest, und der Abdruck ihrer Finger blieb darin sichtbar. Sie zog die Fäustlinge an, nahm etwas Schnee auf, drückte und formte ihn.
Sie hörte Jacks Schritte, blickte hoch und sah ihn zum Haus kommen. Er kniff die Augen zusammen. Sie kam so selten hinaus und nie am Abend. Seine Reaktion löste in ihr ein unvorhersehbares kindliches Verlangen aus. Sie drückte den Schneeball noch ein paarmal, behielt Jack im Auge und wartete, dass er näher kam. Dann warf sie nach ihm, und als ihr der Schneeball aus der Hand flog, wurde ihr klar, dass sie etwas Unerhörtes tat, und sie fragte sich, was als Nächstes geschehen würde. Der Schneeball traf Jack unmittelbar über dem Stiefelschaft ans Bein.
Er blieb stehen, sah auf den kreisrunden Fleck an seinem Hosenbein und dann zu Mabel herüber; auf seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Ärger und Verwirrung, und noch während er die Stirn runzelte, erschien in seinen Mundwinkeln ein kleines Lächeln. Er bückte sich, stellte die Laterne vorsichtig neben sich in den Schnee, schlug sich mit der behandschuhten Hand aufs Hosenbein und wischte den Schnee ab. Mabel hielt den Atem an. Jack blieb vornübergebeugt, die Hände neben den Stiefeln am Boden, und dann, schneller, als Mabel reagieren konnte, nahm er eine Handvoll Schnee auf und warf einen vollendet geformten Schneeball nach ihr. Er traf sie an der Stirn. Sie stand regungslos, ihre Arme hingen herab. Keiner von beiden sagte etwas. Rings um sie fiel der Schnee, legte sich auf ihre Köpfe und Schultern. Mabel wischte sich den nassen Schnee von der Stirn und sah Jack mit offenem Mund dastehen.
«Ich … das war nicht … Ich wollte nicht …»
Und sie lachte. Schmelzender Schnee tropfte ihr von den Schläfen, Schneeflocken ließen sich auf ihren Wimpern nieder. Sie lachte und lachte, krümmte sich vornüber, und dann packte sie wieder eine Handvoll Schnee und warf nach Jack, er warf eine Handvoll zurück, und Schneebälle sausten durch die Luft. Die meisten fielen ihnen vor die Füße, doch der eine oder andere prallte weich gegen eine Schulter oder einen Brustkorb. Lachend jagten sie einander ums Haus, versteckten sich hinter den Hausecken und spähten rechtzeitig hervor, um wieder einen Schneeball kommen zu sehen. Der Saum von Mabels langem Rock schleifte im Schnee. Jack jagte sie, in jeder Hand einen Schneeball. Sie stolperte und fiel hin, und als er zu ihr lief, bewarf sie ihn mit losem Schnee und hörte
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