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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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nie gesehen hatte – Tautropfenmuster sagte ihre Schwester dazu. Durch die lockeren Maschen sah Mabel weißen Schnee.
    Sie lief zu einer Hausecke, wo ein Strauch mit wilden Moosbeeren wuchs. Sie pflückte eine Handvoll gefrorener Beeren, ging wieder zu dem Mädchen aus Schnee und drückte ihr vorsichtig den Saft auf den Mund. Der Schnee dort färbte sich rötlich.
    Seite an Seite betrachteten Mabel und Jack das Schneemädchen.
    «Sie ist schön», sagte Mabel. «Findest du nicht? Sie ist schön.»
    «Sie ist gut geraten, was?»
    Wie sie so still standen, spürte Mabel durch ihre feuchten Kleider hindurch die Kälte und zitterte.
    «Frierst du?»
    Sie schüttelte den Kopf.
    «Lass uns hineingehen, uns aufwärmen.»
    Mabel wollte nicht, dass es aufhörte. Der leise Schnee, die Nähe. Aber ihre Zähne klapperten jetzt. Sie nickte.
    Drinnen fütterte Jack den Holzofen mit mehreren Birkenscheiten, und das Feuer knisterte. Mabel stellte sich so dicht davor, wie sie sich traute, und schälte sich aus nassen Fäustlingen, Mütze, Mantel. Er machte es genauso. Schneeklumpen fielen zischend auf den Ofen. Mabels Kleid hing schwer und nass an ihr herunter; sie knöpfte es auf und zog es aus. Er schnürte seine Stiefel auf und zog sein feuchtes Hemd über den Kopf. Bald standen sie nackt und schaudernd nebeneinander. Sie war sich ihrer bloßen Haut nicht bewusst, bis er näher trat und sie seine raue Hand am Rücken spürte.
    «Besser?», fragte er.
    «Ja.»
    Sie legte ihre Hand in seinen Nacken, wo die Haut sich noch kalt anfühlte, und drückte ihre Nase in seine Halsbeuge; Tropfen von geschmolzenem Schnee hingen in seinem Bart.
    «Lass uns ins Bett gehen», sagte Jack.
    Nach all den Jahren spürte sie an einer Stelle in sich noch ein Flattern, wenn er sie berührte, und seine kehlige, gedämpfte Stimme am Ohr verursachte ihr ein Kribbeln den Rücken hinunter. Nackt gingen sie hinüber ins Schlafzimmer. Unter der Decke berührten sich ihre Körper, Arme und Beine, Rückgrat und Hüftknochen, bis sie die vertrauten, weichen Vertiefungen fanden wie Falze in einer Landkarte, die im Laufe der Jahre immer wieder zusammengefaltet worden war.
    Hinterher lagen sie beisammen, Mabels Wange auf seiner Brust.
    «Du gehst nicht wirklich ins Bergwerk, oder?»
    Er drückte seine Lippen auf ihren Kopf.
    «Ich weiß es nicht, Mabel», flüsterte er in ihre Haare. «Ich tue mein Bestes.»

Kapitel 5
    Es war kalt, als Jack aufwachte. In den wenigen Stunden, die er geschlafen hatte, war das Wetter umgeschlagen. Er konnte es riechen und in seinen arthritischen Händen fühlen. Auf einen Ellenbogen gestützt, tastete er auf der Nachtkonsole nach einem Zündholz und zündete die Kerze an. Er saß auf der Bettkante, bis die Kälte nicht mehr zu ertragen war. Unweit des Kissens, auf dem Mabel schlief, waren fedrige Frostkristalle zwischen die rohen Bohlen gekrochen. Jack fluchte leise und zog Mabel die Steppdecke über die Schulter. Ein warmes, behagliches Heim – nicht einmal das konnte er ihr bieten. Er trug den Kerzenhalter in den Wohnraum. Die schwere metallene Ofentür schepperte laut, als er sie aufmachte. Ein paar Holzreste schwelten in der Asche.
    Als er nach seinen Stiefeln griff, sah er durchs Fenster etwas vorbeihuschen. Er stellte sich an die von Eis umrahmte Scheibe und spähte hinaus.
    Frisch gefallener Schnee bedeckte die Erde, er glitzerte und strahlte im Mondlicht. Der Stall und die Bäume dahinter waren als diffuse Umrisse zu erkennen. Dort, am Waldrand, sah Jack es wieder. Etwas blitzte blau und rot auf. Noch benommen vom Schlaf, schloss er langsam die Augen, schlug sie wieder auf und versuchte, sich zu konzentrieren.
    Da. Ein kleines Wesen lief zwischen den Bäumen hindurch. War das ein Rock um die Beine? Ein roter Schal um den Hals, weißblonde Haare den Rücken hinunter. Zart. Flink. Ein kleines Mädchen. Rannte am Waldrand entlang. Verschwand dann zwischen den Bäumen.
    Jack rieb sich mit den Handballen die Augen. Zu wenig Schlaf – das war es wohl. Zu viele lange Tage. Er trat vom Fenster zurück und stieg in seine Stiefel, ließ die Schnürsenkel offen. Die kalte Luft nahm ihm den Atem, als er die Tür öffnete. Er ging zu dem Holzstoß; Schnee knirschte unter seinen Stiefeln. Erst als er mit einem Arm voll Birkenscheiten zurückkam, fiel ihm das kleine Schneemädchen ein. Er legte das Holz auf die Erde und ging dorthin, wo es gestanden hatte. An seiner Stelle lag ein kleiner zusammengefallener Schneehaufen. Die Fäustlinge

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