Das Schneemädchen (German Edition)
und der Schal waren fort.
Er stieß mit der Stiefelspitze gegen den Schnee.
Ein Tier. Vielleicht war ein Elch durch den Wald gestapft. Aber der Schal und die Fäustlinge? Ein Rabe oder ein Meisenhäher vielleicht. Wildvögel klauten ja bekanntlich. Als er sich umdrehte, sah er die Spuren. Mondlicht fiel in die Vertiefungen. Die Abdrücke verliefen durch den Schnee, vom Blockhaus hinüber zu den Bäumen. Er beugte sich darüber. Das silbrig blaue Licht war schwach, deshalb traute er zuerst seinen Augen nicht. Ein Kojote oder Luchs womöglich. Oder etwas ganz anderes. Er beugte sich tiefer, berührte die Fußspur mit den bloßen Fingerspitzen. Menschliche Fußabdrücke. Klein. Wie von Kinderfüßen.
Jack schauderte. Er bekam eine Gänsehaut, seine nackten Zehen schmerzten vor Kälte in den Stiefeln. Er wandte sich von Fußspuren und Schneehaufen ab, stapelte die Holzscheite in seine Armbeuge, ging hinein und schloss schnell die Tür hinter sich. Während er die Scheite nacheinander in den Ofen schob, überlegte er, ob Mabel von dem Lärm aufwachen würde. Seine Augen mussten ihm einen Streich gespielt haben. Morgen früh würde sich alles klären. Er blieb am Ofen stehen, bis das Feuer wieder prasselte, dann schloss er die Luftklappe. Unter der Steppdecke schmiegte er sich an Mabels warmen Körper, und sie stöhnte leise im Schlaf, wachte aber nicht auf. Jack lag neben ihr, die Augen weit geöffnet, und seine Gedanken überschlugen sich, bis er schließlich in einen leichten Schlummer sank, der sich kaum von Wachsein unterschied. Es war ein schleierzarter, unruhiger Schlaf, in dem Träume aufschienen und vergingen wie Schneeflocken, in dem Kinder leichtfüßig zwischen Bäumen liefen und Schals in schwarzen Rabenschnäbeln flatterten.
Als Jack wieder aufwachte, war es spät am Morgen, die Sonne schien, und Mabel war in der Küche. Sein Körper fühlte sich müde und steif an, als hätte er überhaupt nicht geschlafen, sondern die ganze Nacht über Holz gehackt oder Heuballen geschleppt. Er zog sich an und ging auf Strümpfen zum Tisch. Es roch nach frischem Kaffee und heißen Pfannkuchen.
«Ich glaube, es ist gelungen, Jack.»
«Was?»
«Das mit dem Sauerteigansatz, den Esther mir mitgegeben hat. Hier, probier mal.»
Mabel stellte einen Teller mit Pfannkuchen auf den Tisch.
«Hast du gut geschlafen?», fragte sie. «Du siehst ganz erschöpft aus.» Eine Hand auf seiner Schulter, langte sie über ihn hinweg und schenkte ihm aus der blauen Emaillekanne Kaffee ein. Er nahm die Tasse in beide Hände, um sich an ihr zu wärmen.
«Ich weiß nicht. Ich glaube nicht.»
«Es ist so kalt draußen, nicht wahr? Aber schön. All der weiße Schnee. Alles ist so hell.»
«Bist du draußen gewesen?»
«Nein. Bin nur einmal mitten in der Nacht raus zum Abort gesaust.»
Er stand vom Tisch auf.
«Willst du nicht frühstücken?», fragte sie.
«Ich gehe nur Holz holen. Hätte fast das Feuer ausgehen lassen.»
Diesmal zog er Mantel und Handschuhe an, bevor er die Tür öffnete. Der Schnee reflektierte das Sonnenlicht so gleißend, dass Jack blinzeln musste. Er ging zum Holzstoß hinüber, drehte sich dann zum Haus um und erblickte das Schneekind oder was davon übrig war. Ein formloser Schneehaufen. Kein Schal. Keine Fäustlinge. Genau, wie es in der Nacht gewesen war, bestätigte es sich nun bei Tageslicht. Und die Fußabdrücke verliefen noch durch den Schnee, über den Hof zu den Bäumen. Da sah er den toten Schneeschuhhasen neben der Stufe zur Tür. Er schritt vorbei, ohne stehen zu bleiben. Drinnen ließ er das Holz neben dem Ofen laut zu Boden poltern, starrte dann vor sich hin, ohne etwas zu sehen.
«Ist dir etwas aufgefallen?», fragte er schließlich.
«Meinst du den Kälteeinbruch?»
«Nein. Ich meine etwas Ungewöhnliches.»
«Was denn?»
«Ich dachte, ich hätte in der Nacht etwas gehört. War vermutlich nichts.»
Nach dem Frühstück ging Jack die Tiere füttern. Auf dem Weg zum Stall hob er den toten Hasen auf und hielt ihn an sich gepresst, damit Mabel ihn aus dem Fenster nicht sah. Im Stall angekommen, betrachtete er das Tier genau. Er sah, wo es stranguliert worden war, höchstwahrscheinlich mit einer dünnen Schlinge, die das weiße Fell und das weiche Unterfell durchschnitten hatte. Der Hase war steifgefroren. Später, nachdem er die Tiere versorgt hatte, ging Jack hinter den Stall und warf den toten Hasen, so weit er konnte, in den Wald.
Als er wieder ins Haus kam, erhitzte Mabel gerade Wasser
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