Das Schneemädchen (German Edition)
gelaufen.»
«Sie? Wer?»
«Ein kleines Mädchen. Sie hatte deinen roten Schal um.»
«Was? Warum hast du mir nichts davon gesagt? Bist du ihr gefolgt?»
«Heute Morgen, als ich dir gesagt habe, ich würde den Fuchs suchen, wollte ich herausfinden, wohin sie gegangen ist, aber ich habe die Spur verloren.»
«Gestern Abend … da war ein kleines Mädchen allein draußen im eiskalten Winter, und du hast nicht nachgesehen, ob sie Hilfe braucht? Sie muss irgendwo weggelaufen sein.»
«Ich weiß es nicht, Mabel.»
Sie ging wieder hinaus und betrachtete die kleinen Fußstapfen. Nur eine einzige Spur führte über den Schnee, fort von ihrem Haus und in den Wald hinein.
An den folgenden Tagen war der Himmel klar, scharfe Kälte lag über dem Tal, und die Kinderspuren vereisten. Glitzernd und zierlich zogen sie durch Mabels Gedanken und gaben ihr das Gefühl, sich an etwas erinnern zu müssen.
Eines Abends trat sie an das Regal, wo zwischen Buchstützen aus Mahagoniholz ein Dutzend ihrer Lieblingsbücher standen – die Gedichte von Emily Dickinson, Walking von Henry David Thoreau, The Troubles of Queen Silver-Bell von Frances Hodgson Burnett. Als sie geistesabwesend mit den Fingern über die Buchrücken fuhr, kam ihr eine Geschichte in den Sinn, die ihr Vater ihr oft vorgelesen hatte. Sie erinnerte sich an den abgegriffenen blauen Ledereinband und den Goldton der Illustrationen. Auf einem Bild reichte ein kleines Mädchen seine behandschuhte Hand dem alten Mann und der alten Frau hinunter, die vor ihm knieten – dem alten Mann und der alten Frau, die es aus Schnee geformt hatten.
Als Mabel tags darauf die Hühner im Stall füttern ging, kam sie an den kleinen Stiefelabdrücken vorbei.
Es war ganz still im Haus, als sie aufwachte. Sie spürte die Veränderung, bevor sie aus dem Fenster sah oder die Tür öffnete. Es war eine dumpfe Stille, scharfe Kälte drückte gegen die Holzwände, aber drinnen war es warm. Jack hatte ihr ein knisterndes Feuer hinterlassen, bevor er sich wieder auf Elchjagd begeben hatte. Ihr Gespür bestätigte sich, als sie aus dem Fenster sah und eine leuchtende neue Landschaft erblickte. Es hatte wieder geschneit, ein feines Schneetreiben war es diesmal gewesen; der Schnee hatte sich über Nacht rasch aufgehäuft und das Blockhaus sowie die Nebengebäude zugedeckt. Felsblöcke und Baumstümpfe standen in weiche weiße Buckel verwandelt. Schnee hatte sich auf Fichtenzweigen zu dicken Polstern getürmt, er lag schwer auf den Dachtraufen des Blockhauses und hatte die Spuren im Hof getilgt.
Mabel brachte einen Korb mit Brotkrumen und getrockneten Apfelschnitzen, die von einem Kuchen übrig geblieben waren, in den Hühnerstall. Sie empfand es als tröstlich, wie die Hennen auf der Fichtenstange saßen, das Gefieder aufgeplustert gegen die Kälte. Als sie hereinkam, hüpften sie auf den mit Stroh bestreuten Boden und gluckten wie alte Frauen, die eine Nachbarin begrüßen. Sie liefen hastig umher und spreizten die Flügel. Eins der schwarz-weißen Hühner pickte Mabel einen Krümel aus der Hand; sie strich ihm über den gefiederten Rücken, dann watschelte es davon. Sie griff in die Nistkästen. Unter dem weichen Bauch einer Rothenne fand sie schließlich zwei warme Eier.
Mabel legte sie in ihren Korb und verließ den Stall. Als sie sich umdrehte, um das Tor zuzuziehen, erspähte sie zwischen den schneebeladenen Fichten jenseits des Hofes etwas Blaues. Sie strengte die Augen an und sah nichts Blaues mehr, sondern stattdessen rotes Fell. Blauer Stoff. Rotes Fell. Ein Kind, schmächtig und flink, in einem blauen Mantel, lief zwischen den Bäumen. Ein Blinzeln, und der kleine Mantel war verschwunden, abgelöst durch ein vorbeigleitendes Fell; es war wie bei den bewegten Schwarzweißbildern, die sie einmal in einem Münzguckkasten in New York gesehen hatte. Bewegungen erschienen und verschwanden, Kind und Waldgeschöpf, jeweils ein flackerndes Kommen und Gehen.
Mabel ging Richtung Wald, langsam zuerst, dann schneller. Sie hielt nach dem Mädchen Ausschau, hatte es aber aus den Augen verloren.
Am Waldrand angekommen, spähte sie durch die verschneiten Zweige und sah zu ihrer Überraschung nur etwa hundert Meter entfernt das Kind. Sie hockte mit dem Rücken zu Mabel im Schnee, weißblonde Haare wallten den blauen Wollmantel hinab. Mabel überlegte, ob sie rufen sollte, räusperte sich, und das Geräusch erschreckte das Kind. Die Kleine stand auf, hob flink ein Säckchen aus dem Schnee und
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