Das Schneemädchen (German Edition)
eine, rollte sie zwischen Daumen und Zeigefinger, roch daran und steckte sie in den Mund.
«Oh, Jack, du weißt doch aber nicht, was das ist.»
«Eine Blaubeere. Schmeckt nach Blaubeere.»
Sie runzelte die Stirn, nahm aber eine in den Mund und kostete sie zögernd.
«Du hast recht. Das sind wilde Blaubeeren. Gefroren. Wie kleine Murmeln.»
Sie setzte sich an den Tisch und betastete die Rindenkanten, vorsichtig, als könnte der Korb unter ihren Fingern zerbrechen. «War sie das?», fragte sie. «Hat sie uns die gebracht?»
«Sie wusste vermutlich, dass es bei uns Pfannkuchen zum Frühstück gibt», scherzte Jack. Mabel lächelte nicht.
«Ich gehe Feuerholz holen», sagte er.
Jack folgte seiner alten Spur am Holzstoß vorbei zu dem Baumstumpf am Waldrand. Die Puppe war fort. Die kleinen Fußabdrücke des Kindes führten zu dem Baumstumpf, einmal um ihn herum und wieder geradewegs in den Wald. Ihre Füße sanken in den Schnee kaum ein, als wöge sie nicht mehr als eine Feder.
Als er mit einem Armvoll Holz hereinkam, backte Mabel Pfannkuchen. Sie besprenkelte sie mit ein paar von den wilden Blaubeeren, und sie aßen sie am Tisch, das Körbchen zwischen sich. Von dem Kind sprachen sie erst, als der Tisch abgeräumt war und Jack sich anschickte, hinauszugehen.
«Ich gehe Holz vom Ostfeld holen. Alle sagen, wir bekommen eine Kälteperiode.»
«Wie kannst du nur?» Mabels Stimme war leise und zitterte. «Wie kannst du frühstücken und den Tag angehen, als wäre nichts geschehen?»
«Es ist Winter, und wir brauchen Feuerholz.»
«Sie ist ein Kind, Jack. Du magst es vor den Nachbarn nicht zugeben können, aber du hast sie auch gesehen. Du weißt, dass sie da draußen ist.»
Er seufzte. Dann schnürte er seine Stiefel fertig, trat zu Mabel und legte ihr seine Hände auf die Schultern.
«Was können wir tun?»
«Wir müssen etwas tun.»
«Ich weiß bloß nicht, was … ich denke, es geht ihr gut.»
Mabel kniff die Augen zusammen. «Wie kann es ihr gutgehen? Ein Kind, das mitten im Winter draußen umherstreift?»
«Ich denke, sie hat es warm. Und sie weiß offenbar, wie sie an Nahrung kommt. Schau dir doch die Beeren an und das Körbchen. Sie kennt sich aus da draußen, wahrscheinlich besser als wir beide.»
«Aber sie ist nur ein Kind. Ein kleines Mädchen.»
Er dachte, Mabel würde gleich anfangen zu weinen, und er wünschte sich weit weg. Das war falsch und feige, und er hatte es wiederholt getan – einmal, als Mabel das Baby verloren und vor Kummer gebebt hatte, als die Verwandten böse Worte geflüstert hatten, und dann wieder, als Mabel die Bensons nach dem Kind im Wald gefragt hatte. Aber es war wie die Notwendigkeit, Atem zu holen. Der Drang war zu stark, und ohne ein weiteres Wort verließ Jack das Haus.
Kapitel 10
Schneeflocken und nackte Babys taumelten durch Mabels Nächte. Sie träumte, sie sei mitten in einem Schneesturm. Schnee fiel und wirbelte um sie herum. Sie streckte die Hände aus, und Schneeflocken landeten auf ihren Handflächen. Als sie ihre Haut berührten, zerschmolzen sie zu winzig kleinen nackten Neugeborenen, jedes nicht größer als ein Fingernagel. Dann blies der Wind sie fort, und sie waren wieder nur Schneeflocken im Gestöber von Tausenden.
In manchen Nächten wachte sie von ihrem eigenen Weinen auf. In anderen rüttelte Jack sie sanft. «Wach auf, Mabel. Du hast einen Albtraum. Wach auf.»
Bei Tageslicht wich das Grauen, und ihre Träume kamen ihr seltsam wunderlich vor, aber in ihrem Mund blieb ein schaler Geschmack von Verlust zurück. Es fiel ihr schwer, sich auf ihr Tagwerk zu konzentrieren, und oft ließ sie ihre Gedanken ziellos treiben. Eine schwache Erinnerung tauchte immer wieder auf – ihr Vater, ein ledergebundenes Märchenbuch, ein lebendiges Schneekind auf den Seiten. Sie konnte sich nicht deutlich an die Geschichte oder an mehr als ein paar Illustrationen erinnern, und sie quälte sich damit, es ließ sie nicht mehr los. Wenn es ein solches Buch gab, konnte es dann ein solches Kind geben? Wenn ein alter Mann und eine alte Frau aus Schnee und Wildnis ein kleines Mädchen heraufbeschworen, was wäre es dann für sie? Eine Tochter? Ein Geist?
Sie hatte nach vernünftigen Erklärungen gesucht. Sie hatte Esther nach Kindern gefragt, die in der Nähe wohnten, hatte Jack bedrängt, sich in der Stadt umzuhören. Aber sie hatte sich auch diese ersten Stiefelabdrücke im Schnee gemerkt – sie begannen bei dem zerstörten Schneekind und führten in den Wald.
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