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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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versuchte, nicht daran zu denken, wie der Muskel im Brustkorb eines Elches sich zusammenzog und schlug. Sie kostete versengtes Fleisch und den Kupfergeschmack von Blut, aber es war nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte.
    Als die Gespräche abklangen und alle zu Ende gegessen hatten, nickte ihr Esther über den Tisch zu und sagte: «Wolltest du mir nicht was erzählen? Gerade, als George reingeplatzt ist?»
    «Oh, ich kann mich im Moment nicht erinnern.»
    «Wir haben über den Fuchs gesprochen …»
    Mabel war ganz konfus. «Ich wollte fragen … aber das kann warten.»
    «Ach, die anderen hören uns gar nicht. Also raus mit der Sprache.» Esther machte eine ungeduldige Handbewegung. Mabel sah ein, dass sie recht hatte – die Männer erzählten sich Jagdgeschichten und achteten nicht auf sie.
    «Also, ich wollte fragen – wohnt hier in der Nähe vielleicht irgendwo ein kleines Mädchen? Ein kleines blondes Mädchen?»
    «Ein kleines Mädchen? Mal überlegen. Im Moment sind nur wenige Familien im Tal. Die meisten Gehöfte werden von alleinstehenden Männern bewirtschaftet, die ursprünglich wegen Gold hergekommen sind. Die Wrights haben mehrere Mädchen, aber die sind rothaarig. Krause rote Haare und Wangen wie Äpfelchen. Und sie wohnen auch nicht hier in der Nähe. Eher noch ein Stück weiter in unserer Richtung. Hier draußen bei euch, also da sind am Fluss ein paar Indianerlager, aber die sind gewöhnlich nur im Sommer da, wenn die Lachse schwärmen. Und da gibt’s natürlich keine einzige Blonde.»
    Esther stand auf, räumte das Geschirr zusammen und stapelte es auf dem Tisch. Die Männer unterbrachen ihr Gespräch, um ihr das Besteck zu reichen, dann redeten sie weiter.
    «Warum ich frage», sagte Mabel leise, zu Esther vorgebeugt, «neulich war nachts ein Kind hier bei uns. Jack ist mitten in der Nacht aufgestanden, und da hat er ein Mädchen durch die Bäume laufen sehen. Am nächsten Morgen – wir hatten einen kleinen Schneemann gebaut, vielmehr ein kleines Schneemädchen – also, da war es umgestürzt, und der Schal und die Fäustlinge waren weg. Es hört sich dämlich an, aber ich glaube, das muss das Kind gewesen sein. Nicht, dass es mir etwas ausmacht, ehrlich. Ich hätte ihr die Sachen geschenkt, wenn sie sie so nötig braucht. Ich mache mir nur Sorgen, ob sie sich vielleicht verlaufen hat. Man stelle sich vor, ein kleines Mädchen draußen im Wald, in so einem Winter.»
    Esther hielt beim Zusammenräumen des Geschirrs inne und sah Mabel an. «Hier bei euch, sagst du? Du hast ein kleines blondes Kind einfach so herumrennen sehen?»
    «Ja. Eigenartig, nicht?»
    «Bist du dir ganz sicher? War es nicht bloß ein Tier oder sonst was?»
    «Nein, ganz bestimmt nicht. Wir haben sogar ihre Fußspuren gesehen. Jack ist ihnen ein Stück gefolgt, aber sie führten im Wald immer bloß rundherum. Und neulich habe ich sie gesehen, zwischen den Bäumen hinter dem Stall.»
    «Das ist wirklich verrückt. Also, da gibt es die Wright-Mädels, aber die leben gute fünfzehn Kilometer weit weg, vermutlich sogar noch weiter …» Esther unterbrach sich und sank auf einen Stuhl. Dann sah sie Mabel über den Tisch hinweg in die Augen und lächelte sanft.
    «Ich möchte nichts Falsches sagen, Mabel, aber es ist nicht leicht, hier draußen zurechtzukommen. Die langen Winter können einem schon zusetzen. Hier nennen sie es Hüttenkoller. Man ist deprimiert, alles ist aus dem Lot, und manchmal spielt einem das eigene Bewusstsein Streiche.» Esther fasste über den Tisch und legte ihre Hand auf Mabels. «Man sieht Dinge, die einem Angst machen … oder Dinge, die man sich immer gewünscht hat.»
    Mabel überließ Esther für einen Augenblick ihre Hand, zog sie aber dann fort.
    «Nein, das ist es nicht. Wir haben sie gesehen. Wir haben beide die Fußspuren gesehen, und die Fäustlinge und der Schal sind nicht mehr da.»
    «Vielleicht war es ein Tier oder der Wind. Es gibt alle möglichen Erklärungen.»
    Die Männer waren verstummt. Alle sahen Mabel an.
    «Es stimmt aber, nicht, Jack? Wir haben sie gesehen. In ihrem blauen Mäntelchen.»
    Jack rutschte auf seinem Stuhl herum und hob die Schultern. «Es kann alles Mögliche gewesen sein», sagte er.
    «Nein. Nein.» Mabel war verärgert. «Es war ein kleines Mädchen. Du hast sie auch gesehen. Und ihre Fußabdrücke waren im Schnee.»
    «Schön, vielleicht könnt ihr uns die Fußspuren zeigen», sagte Esther. «Unser Garrett ist ein guter Fährtenleser. Er kann euch

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