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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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voller Ideen und auf stille Art unabhängig gewesen, doch mit den Jahren war daraus eine schwere Melancholie geworden, die ihm Sorgen bereitete. Bis er mehr über das kleine Mädchen und seine Umstände wusste, hielt er es für das Beste, es nicht mehr zu erwähnen.

    Als weder das Sauerteigbrötchen noch Pfefferminzbonbons aus der Stadt, nicht einmal ein stibitztes Stück von Mabels Kuchen etwas fruchteten, wusste Jack nicht, was er noch versuchen sollte. Ihm fiel ein, dass das Mädchen sich den Schal und die Fäustlinge genommen hatte. Ob sie fror und mehr Sachen zum Anziehen brauchte? Seine kurzen Eindrücke von ihr ließen ihn daran zweifeln. In Pelz und Wolle gehüllt, schien sie sich im Schnee wohlzufühlen.
    Dann fiel sein Blick bei einer Fahrt in die Stadt auf eine Miniatur-Porzellanpuppe im Gemischtwarenladen. Sie hatte lange, glatte blonde Haare, denen des Mädchens nicht unähnlich, und trug das bunte Kleid einer europäischen Dörflerin, einer Schwedin oder Holländerin vielleicht. Es war leichtfertig, so viel Geld auszugeben, aber er hörte nicht auf sein Gewissen, kaufte das Püppchen auf Pump und versteckte es in seiner Manteltasche. Zu Hause angekommen, mochte er nicht bis zum nächsten Morgen warten, und obwohl es schon dunkel war, nahm er es mit, als er die Tiere füttern und tränken ging.
    Er holte die Laterne aus dem Stall und begab sich zu dem Baumstumpf, auf dem die anderen Geschenke unangetastet lagen. Er nahm die Puppe aus der Tasche. Vielleicht hatten er und Mabel wahrhaftig den Verstand verloren. Hüttenkoller – hatte Esther es nicht so genannt?
    Mit erhobener Stimme und doch so sanft, wie er nur konnte, rief Jack in die kalte Nacht: «Die ist für dich. Bist du da?»
    Seine Stimme war leise und kratzig. Er räusperte sich und rief noch einmal.
    «Ich weiß nicht, ob du da bist und ob du mich hören kannst, aber wir möchten dir das hier schenken. Nur eine Kleinigkeit, ich habe sie in der Stadt gefunden. Also, gute Nacht.»
    Er hoffte, sie zu sehen oder Vogelgesang in den Bäumen zu hören, aber da war nichts als Kälte und Dunkelheit. Er trat von einem Fuß auf den anderen, schob eine Hand in die Manteltasche und drehte sich schließlich um; die Porzellanpuppe hatte er auf dem Baumstumpf in den Schnee gesetzt.

    Als er wieder ins Haus kam, hatte Mabel auf dem Ofen Waschwasser für ihn gewärmt. Sie goss es in eine Schüssel, und Dampf stieg auf. Jack zog sein Hemd aus, legte sich ein Handtuch um die Schultern, spritzte sich Wasser ins Gesicht und seifte seinen Bart ein. Hinter sich konnte er Mabel in der Küche hantieren hören.
    «Oh», sagte sie leise.
    Jack hob den Kopf von der Schüssel und trocknete sich das Gesicht ab.
    «Was ist?»
    «Das Fenster. Siehst du das?»
    Während sie hinsahen, bildeten sich Federn und Wirbel aus Eis auf der Scheibe und breiteten sich langsam von der Mitte zu den Ecken aus. Spitzenartige weiße Ranken wuchsen in Kringeln und Schlingen, und Eisblumen erblühten. Binnen Sekunden war die Fensterscheibe mit sich überlagernden Eismustern überzogen, die einer feinen Radierung ähnelten.
    «Das kommt vielleicht von dem Dampf», flüsterte Mabel. Sie drückte ihre Handfläche an die Scheibe, und ihre warme Haut brachte das Eis zum Schmelzen. Sie ballte die Faust, rieb einen kleinen Kreis in die Mitte der Scheibe und blickte hinaus.
    «Oh», keuchte sie und drückte ihr Gesicht an die Scheibe.
    «Was, Mabel? Was ist da?»
    «Sie. Sie ist da.» Sie drehte sich um, die Hand an der Kehle. «Ihr Gesichtchen, direkt vor unserem Fenster. Sie hatte Fell rund um den Kopf, wie ein wildes Tier.»
    «Das ist ihre Mütze. Eine Marderfellmütze mit Ohrenklappen, die sie unter dem Kinn festgebunden hat.»
    «Aber sie ist jetzt da. Geh nachsehen.»
    «Sie läuft schnell, sogar im Schnee», sagte er, aber da reichte Mabel ihm schon Stiefel und Mantel und öffnete die Tür.
    Sobald er hinaustrat, wurden sein Bart und seine Haare steif von der eisigen Kälte. Er ging um das Blockhaus herum, sah aber nur, was er erwartet hatte – Schnee, Bäume und die Nacht. Kein Kind.

    Am nächsten Morgen trat Jack beinahe auf das Körbchen vor ihrer Tür.
    «Jack? Was hast du …»
    «Ich bin mir nicht sicher.» Er stellte das Körbchen auf den Tisch, und sie beugten sich darüber. Es war aus Birkenrinde gefertigt, an den Nahtstellen mit irgendeiner getrockneten Pflanzenwurzel zusammengefügt. Der Korb passte genau in zwei gewölbte Hände und war mit purpurroten Beeren gefüllt. Jack nahm

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