Das Schneemädchen (German Edition)
bestimmt was dazu sagen.»
Mabel hätte am liebsten geschrien oder geweint, aber sie sprach jedes einzelne Wort deutlich aus.
«Die Spuren sind nicht mehr da. Der Schneesturm vorige Woche hat sie zugedeckt.»
«Schneesturm? Es hat seit Wochen keinen …» Esther brach ab und kniff die Lippen zusammen.
Mabel stand auf und trug das Geschirr zur Anrichte, froh, der Runde am Tisch zu entkommen. Jack mied ihren Blick, als er zum Ofen ging und ein Holzscheit nachlegte. Sie war mit dem Nachtisch beschäftigt – Sauerteigbrötchen, mit Esthers selbstgemachter Marmelade bestrichen. Esther trat hinter sie und drückte sanft ihren Arm. Es war eine Bekundung von Freundschaft und Anteilnahme, doch Mabel fühlte sich elend dabei.
Bald schon war das Haus wieder erfüllt von munteren Gesprächen über die Jahreszeiten, die Bearbeitung des Bodens und das Einlagern von Wintervorräten. George und Esther brachten Jack und die Jungs mit ihren verrückten Geschichten von ungehobelten Schwarzbären, von Abort-Streichen und störrischen Pferden zum Lachen. Keiner sprach von dem kleinen Mädchen oder den Fußabdrücken, die im Schnee verschwunden waren.
Rund ums Haus war es dunkel. Mabel sah gelegentlich aus dem Fenster mit dem Hintergedanken, dass sie vielleicht das Kind sehen würde, aber da war nur ihr eigenes Spiegelbild im Lampenlicht.
Kapitel 9
Jack begann mit einem Brötchen, einem von Mabels Sauerteigbrötchen.
Er war früh aufgestanden, um das Fleisch im Wagen nach Hause zu befördern, und nachdem er es im Stall an einen Balken gehängt und das Pferd versorgt hatte, ging er zum Mittagessen hinein. Als Mabel nicht hinsah, schob er ein Brötchen in seine Tasche und sagte ihr, er wolle im Stall arbeiten. Stattdessen ging er zum Waldrand.
Es war sicher nicht recht, ein Kind auf diese Weise anzulocken. Als Junge hatte er Rehe und Waschbären mit Futterstückchen geködert, und seine unendliche Geduld war oft belohnt worden. Einmal hatte ihm eine Hirschkuh eine Möhre aus der Hand genommen und war erst danach in den Wald geflüchtet. Er hatte ihn nie vergessen, diesen Augenblick, wie die Hirschkuh, nachdem er scheinbar stundenlang gekauert und gewartet hatte, den langen Hals zu ihm hinunterbeugte und die Möhre nahm. Er hatte ihr weiches Maul an seinen Fingern gespürt.
Er wischte Schnee von einem Baumstumpf und legte das Brötchen darauf, und dabei überlegte er, ob er wohl von derselben Neugierde getrieben war wie damals. Das Kind war kein Waschbär, den man in eine Falle locken konnte. Er machte sich Sorgen um sie. Er hatte es töricht gefunden, den Bensons davon zu erzählen, aber das kleine Mädchen war immer wieder zu ihrem Gehöft gekommen, und er wusste nicht, was sie wollte. Vielleicht war sie in Not, aber zu schüchtern oder zu verängstigt, um bei ihnen anzuklopfen. Möglicherweise war sie einsam und suchte nur Gesellschaft, aber vielleicht war es auch etwas Dringlicheres. Obdach. Kleidung. Nahrung. Hilfe irgendwelcher Art. Dieser Gedanke beschäftigte ihn, und so versuchte er, sie auf die einzige Weise zu erreichen, die er kannte. In den folgenden Stunden arbeitete Jack im Freien, stapelte Holz und schaufelte Wege frei. Die ganze Zeit behielt er aus dem Augenwinkel das Brötchen im Blick, doch das blieb unangetastet, und der Wald blieb stumm.
Am nächsten Morgen entdeckte er Fußspuren, die zu dem Baumstumpf führten, sie schlängelten sich hierher und dorthin, wo das Mädchen sich hinter einer Fichte, einem Strauch versteckt haben musste. Das Brötchen lag noch auf dem Baumstumpf.
Am Abend suchte er im Haus nach weiteren möglichen Lockmitteln. Er nahm Büchsen in die Hand und öffnete Schachteln, bis Mabel schließlich fragte, was er suche.
«Nichts», murmelte er und hatte wegen seiner Lüge sogleich Gewissensbisse. Sie würde sein Vorhaben missbilligen oder eigene Vorschläge machen, doch er musste es auf seine Weise tun. Als Junge war nie ein Reh oder ein Vogel in seine Reichweite gekommen, wenn seine Freunde herumtobten.
Überdies schien es Mabel aufzuwühlen, wenn sie über das Kind sprachen. Sie war in letzter Zeit gut gelaunt gewesen und hatte ein Strahlen in den Augen, das Jacks Herz beschwingte. Das Zusammensein mit Esther tat ihr gut. Aber immer, wenn die Rede auf das kleine Mädchen kam, wurde sie ganz aufgeregt. Er ertappte sie oft dabei, wie sie aus dem Fenster schaute.
Dieselben Eigenschaften, durch die sie als junge Frau so anziehend gewesen war, machten sie jetzt offenbar krank. Sie war
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