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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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glücklich.

    Als das Morgenlicht silbern auf den Schneeverwehungen und Fichten glänzte, saß Mabel am Küchentisch und skizzierte das Birkenkörbchen, das ihnen das Mädchen gebracht hatte. Sie hatte es gegen ihren Rezeptkasten gelehnt, sodass es ihr zugeneigt war, und versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, wie es mit Beeren gefüllt ausgesehen hatte. Schon viel zu lange hatte sie nicht mehr gezeichnet, der Stift lag ungelenk in ihrer Hand, und die Winkel und Abschattierungen wollten ihr einfach nicht gelingen. Verärgert rieb sie sich den Nacken und streckte sich.
    Als Mabel das Gesicht des Mädchens am Fenster erblickte, zuckte sie kurz zusammen, dann lächelte sie und hob die Hand zum Gruß. Das Kind winkte zurück, und warme Zuneigung durchströmte sie.
    Faina, Kind. Komm herein, komm herein.
    Die Kleine brachte den Duft von Schnee mit, und im Haus wurde es kühl und frisch. Mabel wickelte ihr den Schal vom Hals, nahm die Handschuhe, die Pelzmütze, den Wollmantel an sich. Das Kind ließ es zu, und Mabel drückte die Kleider an ihre Brust, spürte die winterliche Kälte, die grobe Wolle, das seidig braune Fell. Sie legte den Schal über ihren Handrücken und konnte es kaum fassen, dass das Tautropfenmuster ihrer Schwester nun dieses Mädchen schmückte.
    Was machst du da?
    Das Kind stand am Tisch und hielt einen Stift in der Hand.
    Ich habe gezeichnet, sagte Mabel. Magst du’s sehen?
    Mabel legte die Winterkleidung auf einem Stuhl ab und zog die Tür einen Spaltbreit auf, damit ein Luftzug die Kleine kühlte. Dann zog sie ihr einen Stuhl herbei und setzte sich neben sie.
    Das ist mein Zeichenblock. Und das sind meine Stifte. Ich wollte den Korb zeichnen, den du uns geschenkt hast. Siehst du?
    Mabel hielt ihr die Zeichnung hin.
    Oh, machte das Kind.
    Das ist nicht gut geworden, nicht wahr? Ich fürchte, ich habe alles verlernt, was ich einmal konnte.
    Ich finde es sehr schön.
    Das Kind strich leicht mit den Fingern über das Papier und spitzte staunend die Lippen.
    Was kannst du noch zeichnen?
    Mabel zuckte die Achseln.
    Alles, was ich mir vornehme, schätze ich. Wenn es auch nicht immer so wird, wie ich es haben will.
    Kannst du mich auch zeichnen?
    Ja. Oh ja. Aber ich muss dich warnen, Porträts waren nie meine Stärke.
    Mabel rückte dem Mädchen den Stuhl ans Fenster, sodass die Wintersonne seitlich auf das kleine Gesicht fiel und das blonde Haar aufscheinen ließ. Während der nächsten Stunde glitt ihr Blick ständig zwischen dem Zeichenpapier und dem Kind hin und her. Mabel hatte mit Protest gerechnet, doch das Mädchen beklagte und rührte sich nicht. Stoisch saß sie da, das Kinn leicht angehoben, den Blick nach vorn gerichtet.
    Mit jedem Bleistiftstrich schien Mabels Wunsch ein wenig mehr in Erfüllung zu gehen, es war, als halte sie das Kind in den Armen, liebkose seine Wangen, streichle sein Haar. Sie zeichnete die sanfte Rundung der Jochbeine, die fein geschwungenen Lippen, die fragend gewölbten blonden Augenbrauen. In sich ruhend, wachsam und tapfer, unschuldig und wissend zugleich. In der Art, wie sie den Kopf gewandt hielt, in den schräg stehenden Augen deutete sich eine Ungezähmtheit an, die Mabel ebenfalls einfangen wollte. Jede Einzelheit nahm sie auf und prägte sie sich ein.
    Möchtest du’s sehen?
    Ist es fertig?
    Mabel lächelte.
    Besser wird es heute nicht mehr.
    In gespannter Erwartung drehte sie den Block zu dem Kind um.
    Die Kleine holte tief Luft und schlug dann entzückt die Hände zusammen.
    Gefällt es dir?
    Oh ja! Bin ich das? Sehe ich so aus?
    Hast du denn noch nie dein Gesicht gesehen, Kind?
    Das Mädchen schüttelte den Kopf.
    Noch nie? Niemals in einen Spiegel geschaut? Nun, da habe ich etwas für dich. Viel besser als jede Zeichnung von mir.
    Mabel ging in die Schlafkammer und kam mit ihrem Handspiegel zurück.
    Weißt du, was das ist? Das ist ein Spiegel, darin kannst du dich sehen.
    Die Kleine zuckte die Achseln.
    Hier, siehst du? Das bist du.
    Mit großen Augen und ernstem Gesicht spähte das Mädchen in den Spiegel. Mit der Fingerspitze berührte sie erst die glänzende Glasfläche, dann ihre eigenen Haare, ihr Gesicht. Sie lächelte, wandte den Kopf hin und her, strich sich das Haar aus den Augen, und nie ließ ihr Blick das Spiegelbild los.
    Möchtest du die Zeichnung haben, die ich von dir gemacht habe?
    Faina lächelte und nickte.
    Mabel faltete das Porträt zu einem kleinen Rechteck zusammen, das in die Tasche des Kindes passte.

    Nach dem Abendessen, als die

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