Das Schneemädchen (German Edition)
Lackmalerei erinnert; die Farben waren satt und sinnlich und die Details fein ausgearbeitet. Dargestellt waren zwei alte Leutchen, ein Mann und eine Frau, und sie knieten im Schnee zu Füßen eines kleinen Mädchens, das vom Boden bis zur Taille aus Schnee gemacht schien, oberhalb der Taille jedoch wie ein lebendiges Kind aussah.
Die Wangen des Schneemädchens glühten rot und lebendig, Juwelen schmückten ihr blondes Haar. Lieb lächelte sie auf das alte Ehepaar herab und streckte ihnen die Hände entgegen, die in warmen Fäustlingen steckten. Von ihren Schultern hing ein bestickter loser Mantel, er schimmerte silbern und weiß, und es war nicht zu erkennen, wo der Stoff aufhörte und der Schnee begann. Im Hintergrund rahmten schwarzgrüne Fichten und ferne, schneebedeckte Gipfel die Winterlandschaft ein. Zwischen zwei Bäumen stand ein Rotfuchs mit goldenen, katzenhaften Augen.
Mabel griff nach ihrem Tee. Er war kalt geworden. Wie lange hatte sie auf dieses eine Bild gestarrt? Sie nippte an dem kühlen Getränk und blätterte um. Nun war es Nacht, silbern funkelten die Sterne am blauschwarzen Firmament. Das kleine Mädchen lief in den Wald. Die beiden alten Leute standen in der Tür des Häuschens und sahen ihr traurig nach.
Je mehr Seiten Mabel umblätterte, desto schwindliger wurde ihr, desto unwirklicher fühlte sie sich.
Sie hob das Buch näher an die Augen. Das nächste Bild hatte sie immer am liebsten gemocht. Auf einer verschneiten Lichtung stand das Mädchen, und um sie scharten sich die wilden Tiere des Waldes – Bären, Wölfe, Hasen, Hermeline, ein Hirsch, ein Rotfuchs, ja selbst eine winzige Maus. Aufrecht hockten die Tiere neben ihr; sie wirkten weder bedrohlich noch von Ehrfurcht überkommen. Es war, als säßen sie allesamt Porträt, mit ihrem Fell und den Zähnen und Klauen und den gelben Augen, und das kleine Mädchen blickte weder furchtsam noch stolz, sondern vollkommen ungerührt aus den Seiten heraus. Waren die Tiere dem Kind zugetan, oder wollten sie es fressen? Auch jetzt, nach all den Jahren, konnte Mabel in den glühenden Augen keine Antwort lesen.
Sie schloss die Buchdeckel und fuhr mit den Fingerspitzen über die geprägte Schneeflocke. Erst als sie das Packpapier faltete, entdeckte sie zwischen den Lagen den Brief ihrer Schwester. Um ein Haar hätte sie ihn übersehen.
Liebste Mabel!
Welch eine Freude, Deinen Brief zu lesen, endlich wieder Deine schöne Handschrift zu sehen und zu hören, dass Du lebst und es Dir gutgeht! Es kommt Dir gewiss befremdlich vor, doch uns scheint es hier fast, als habe man Dich an den Nordpol verbannt. Wie erleichtert waren wir zu hören, dass Du ein warmes Zuhause und sogar hilfsbereite Nachbarn hast – gewiss ein Segen in Eurer Wildnis. Ich freue mich sehr, dass Du den Zeichenblock wieder zur Hand nehmen willst. Ich habe Dich immer für eine begabte Künstlerin gehalten. Möchtest Du uns nicht ein paar kleine Zeichnungen von Deiner neuen Heimat schicken? Wir würden so gerne an Deinen Abenteuern teilhaben.
Was das Buch betrifft, um das Du gebeten hast, so war es pures Glück, dass ich es Dir nun schicken kann. Ein Student, er heißt Arthur Ransome, hat Vaters Sammlungen gesichtet und war von diesem Band ganz besonders angetan. Stell Dir vor, er erforscht die Märchen des hohen Nordens. Mir persönlich lag nichts an dem Buch, und so hatte ich es ihm als Studienexemplar überlassen. Daher wusste ich zu meiner großen Freude genau, wo es sich befand, als Dein Brief eintraf. Dem jungen Mann musste ich es allerdings geradezu gewaltsam entreißen. Er erklärte, es handele sich um ein besonders seltenes Stück, das mit großer Sorgfalt zu behandeln sei. Als er von meinem Vorhaben erfuhr, es Dir an den äußersten Rand der Zivilisation zu schicken, war er völlig entsetzt.
Just als ich das Buch einpacken wollte, fiel mir die kyrillische Schrift auf. Du wirst in Alaska wohl kaum Russisch erlernt haben und deshalb sicherlich halb verzweifeln, wenn Du feststellst, dass Du die Geschichte nicht lesen kannst. So bat ich den jungen Mann, mir von Snegurotschka, dem Schneemädchen, zu erzählen, bevor ich das Buch einwickelte.
Mr. Ransome sagt, die Geschichte von dem Schneekind habe in Russland ähnlich große Bedeutung wie bei uns Rotkäppchen oder Schneewittchen. Wie von so vielen Märchen existieren auch von diesem zahlreiche Varianten, doch der Anfang ist immer derselbe. Ein alter Mann und eine alte Frau leben glücklich in ihrem kleinen Häuschen mitten im
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