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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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Kleine gegangen war, saß Mabel mit ihrem Strickzeug am Herd. Durch das Flusstal fegte der Wind, doch ihr war, als könne sie noch ein weiteres Geräusch hören, ein düsteres Geheul.
    «Ist das der Wind, Jack?»
    Er stand am Fenster und sah hinaus in das undurchdringliche Dunkel.
    «Nein. Ich glaube, das sind die Wölfe weiter oben am Fluss. Ich habe sie kürzlich schon einmal nachts heulen gehört.»
    «Würdest du das Feuer schüren? Ich glaube, ich habe mich ein wenig erkältet.»
    Sie sah zu, wie er Birkenscheite nachlegte; die Flammen leckten an der papierdünnen Rinde, und helle Lichter tanzten über die Wände des Raums. Jack ging erneut zum Fenster und blickte eine Weile in die Nacht hinaus, wie Mabel es sonst tat.
    «Wird ihr auch nichts passieren?», fragte sie. «Der Wind pfeift so unerbittlich. Und dann die Wölfe.»
    «Ich denke, sie ist nicht in Gefahr.»
    Sie blieben ungewöhnlich lange auf. Jack ging mehrmals hinaus, um mehr Holz zu holen, obwohl drinnen neben der Tür ein ganzer Stapel lag, und Mabel strickte in einem fort, obgleich ihre Hände müde waren und ihr die Augen brannten. Schließlich konnten sie sich nicht länger wach halten und krochen in ihr Ehebett. Nebeneinander schliefen sie ein, während der Wind durchs Tal brauste.

Kapitel 15
    Mitte Februar traf mit dem Zug ein an Mabel adressiertes Päckchen in Alpine ein. Jack brachte es mit, zusammen mit einigen Vorräten, durch die nun ihr Kredit beim Gemischtwarenhändler endgültig aufgebraucht war.
    Erst als er wieder hinausgegangen war, setzte sich Mabel an den Tisch und betrachtete das Päckchen. War dies die Sendung, auf die sie gewartet hatte? Eine Ewigkeit schien ihr vergangen zu sein, seit sie ihrer Schwester geschrieben und um das Buch gebeten hatte. Mehrere Wochen lang hatte sie vergeblich gehofft und schließlich angenommen, ihre Schwester habe entweder das Buch nicht gefunden oder kein Interesse für ihr Anliegen aufgebracht.
    Mabel war versucht, das Päckchen einfach aufzureißen, doch ihr Bedürfnis, Ruhe und Fassung zu bewahren, war stärker. Sie machte Wasser heiß und brühte Tee auf. Schließlich nahm sie mit der Tasse am Tisch Platz, löste die Knoten in der Paketschnur und schlug vorsichtig das Packpapier auseinander. Darin befanden sich zwei einzeln eingewickelte Päckchen. Das größere schien eindeutig ein Buch zu sein, doch Mabel öffnete zunächst das kleinere. Es enthielt mehrere gute Zeichenstifte sowie Zeichenkohle. Nun wandte sie sich dem größeren zu und schlug langsam das Papier auf.
    Genau so hatte sie das Buch in Erinnerung gehabt – übergroß und exakt quadratisch, ein Format, das sie bei keinem anderen Kinderbuch je gesehen hatte. Es war in feines blaues Saffianleder gebunden. Eine silbergeprägte, prachtvolle Schneeflocke zierte den vorderen Einband, und die gleiche Prägung fand sich auf dem Buchrücken. Sie legte das Buch auf der Tischplatte ab und öffnete es. «Snegurotschka, 1857» war mit feinem Bleistift in der oberen Ecke des marmorierten Vorsatzpapiers vermerkt. «Das Schneemädchen». Es war die saubere Handschrift ihres Vaters, der auf seinen Reisen zahlreiche Bücher zusammengetragen hatte, manche davon eigens für sie. Zwar bewahrte er sie auf einem Bord in seinem Arbeitszimmer auf, doch wann immer seine Tochter eines anschauen wollte, nahm er es herab, hob sie auf seinen Schoß und blätterte für sie um.
    Das Buch versetzte Mabel in das Studierzimmer des Vaters zurück; sie roch den Duft von Pfeifentabak und alten Büchern. Als sie die erste Seite aufschlug, sah sie linkerhand einen Farbdruck, geschützt von einem Zwischenblatt aus Transparentpapier. Auf der anderen Seite begann die Geschichte. Die Schrift bestand aus eckigen, nicht zu entziffernden Lettern. Ein russischer Text! Wie hatte sie das nur vergessen können! Vielleicht hatte sie es nie bemerkt? Ihr wurde klar, dass sie das Buch nie selbst gelesen hatte, obgleich es eines ihrer liebsten gewesen war. Ihr Vater hatte die Geschichte erzählt, während sie die Bilder betrachtete. Hatte er sie tatsächlich gekannt, oder hatte er die Worte zu den Illustrationen erfunden?
    Ihr Vater war schon lange Jahre tot, doch seine tiefe, sonore Stimme klang ihr nun im Ohr: «Es waren einmal ein alter Mann und eine alte Frau. Sie liebten einander sehr und waren ihres Lebens zufrieden. Nur eines erfüllte sie mit großer Traurigkeit: Nie war ihnen ein Kind geschenkt worden.»
    Mabel blickte auf die Illustration. Sie fühlte sich an russische

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