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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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ihm die Grube tief genug für ein Grab. Nachdem Jack die letzte Glut aus dem Loch geschabt hatte, lehnte er sich auf die Schaufel und stützte die Wange auf die Hand. Schon einmal hatte er allein ein Grab geschaufelt. Er dachte an die kleine Mulde zurück, an den winzigen leblosen Leichnam, kaum größer als ein menschliches Herz.
    Jack rief die Kleine. Es ist an der Zeit, sagte er. Es ist an der Zeit, deinen Papa zur Ruhe zu betten.
    Sie kam hinter einer Fichte hervor.
    Ist es weg?
    Meinst du das Feuer? Ja, es ist aus.
    Sie hatten keinen Sarg. Er selbst besaß keine Bretter, aus denen er einen hätte zimmern können, und er hatte nicht auf sich aufmerksam machen wollen, indem er im Ort danach fragte. Die Zeltleinwand musste genügen. Jack klopfte und zog an dem Tuch, bis er es vom Eis befreit hatte, und schleifte dann den Leichnam über den Schnee bis zum Grab.
    Hast du dich verabschiedet?
    Das Mädchen nickte. Jack war übel. Vielleicht lag es nur an dem langen Arbeitstag, an dem er abwechselnd geschwitzt und gefroren und keinen Appetit auf ein Mittagsmahl gehabt hatte. Doch es schien ihm einfach nicht richtig, einen Mann zu begraben, ohne dass die Behörden Bescheid wussten oder ein Dokument unterzeichnet war oder zumindest ein Geistlicher aus der Bibel vorlas. Wie aber sollte das gehen? Davon abgesehen, dass das Kind hatte zuschauen müssen, wie sein Vater starb, konnte ihm nichts Schlimmeres geschehen, als dass Jack die Behörden hinzuzog. Man würde es in ein Kinderheim verfrachten, weit entfernt von diesen Bergen. Die Kleine erschien ihm stark und zerbrechlich zugleich, wie ein wildes Wesen, das in seiner Heimat prächtig gedeiht, doch sofort verkümmert, wenn es mit Gewalt verpflanzt wird.
    Da ihm niemand helfen konnte, den Toten behutsam in sein Grab zu senken, musste Jack den eingewickelten Leichnam über den Rand schieben. Gnadenlos polterte er in das Loch hinab.
    Soll ich ihn nun zudecken?, fragte er.
    Das Mädchen nickte.
    Langsam schaufelte er Erde und erkaltete Holzkohle hinein. Er war sich nicht sicher, ob seine Kräfte für die Aufgabe ausreichten, doch er machte immer weiter, eine Schaufel nach der anderen, und das Mädchen stand schweigend dabei. Hin und wieder stampfte er die Erde fest, und das Mädchen half ihm – mit finsterem Gesicht hüpfte die Kleine auf dem Grab auf und nieder, und die Marderfellmütze wippte dabei an den Bändern auf ihrem Rücken.
    Nun ist es geschafft, sagte Jack, und kratzte die letzten Erdreste über das Grab.
    Das Mädchen stellte sich neben ihn, schloss die Augen und warf die Arme hoch. Schneeflocken, leichter als Daunen, senkten sich über das Grab. Unmöglich konnte das Kind so viel Schnee in den Armen gehalten haben – er sank herab, als riesele er aus dem blauen Himmel über ihnen. Jack schwieg, bis auch die letzte Flocke ihren Platz gefunden hatte.
    Als er schließlich sprach, war seine Stimme heiser vom Rauch.
    Im Frühling können wir schöne Steine darauflegen, vielleicht auch Blumen pflanzen.
    Das Mädchen nickte, umschlang ihn mit den Armen und verbarg das Gesicht in seinem Mantel. Jack stand einen Moment reglos da, er wusste nicht, wohin mit den Händen, doch dann nahm er behutsam das Kind in den Arm, klopfte ihm sanft auf den Rücken, strich ihm mit der rauen Hand übers Haar.
    Ist gut, ist ja gut. Es wird alles wieder gut. Wir haben es geschafft.

[zur Inhaltsübersicht]
    Teil zwei
    Eines Morgens schließlich, als der letzte Schnee geschmolzen war, kam sie zu dem alten Ehepaar und küsste sie beide.
    «Ich muss euch nun verlassen», sagte sie. «Warum?», riefen sie.
    «Ich bin ein Kind des Schnees. Ich muss dorthin gehen, wo es kalt ist.»
    «Nein! Nein!», weinten sie. «Du darfst nicht gehen!»
    Sie hielten sie im Arm, und ein wenig Schnee tropfte zu Boden. Rasch entglitt sie ihnen und lief aus der Tür.
    «Komm zurück!», riefen sie.
    «Komm zurück zu uns!»
    «Das Schneekind», nacherzählt von Freya Littledale    [2]

Kapitel 14
    Mabel hätte nicht geglaubt, dass sie einmal jedem Tag so froh entgegensehen würde. Vorfreude durchflutete sie, sobald sie morgens erwachte, und einen Moment lang wusste sie gar nicht warum. War heute ein besonderer Tag? Ein Geburtstag? Ein Feiertag? Gab es Pläne? Erst dann fiel es ihr ein: Vielleicht würde das Kind zu Besuch kommen.
    Oft stand Mabel am Fenster, aber nicht müde und melancholisch wie im vergangenen Winter. Gespannt hielt sie Ausschau und hoffte, das kleine Mädchen mit der Pelzmütze am Waldrand

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