Das Schneemädchen (German Edition)
auftauchen zu sehen. Licht waren die Dezembertage, sie glitzerten wie Raureif auf kahlen Zweigen, der kurz die Morgensonne einfängt, bevor er schmilzt.
Mabel zügelte sich. In ihrer Vorstellung lief sie auf das Mädchen zu, sobald es am Waldrand erschien, zog es in ihre Arme und wirbelte es im Kreis herum. Stattdessen aber hielt sie sich zurück, wartete geduldig im Haus und tat, als bemerke sie die Ankunft der Kleinen gar nicht. Kam diese dann herein, so schrubbte sie ihr nicht die Finger, bürstete nicht Laub und Flechten aus ihrem Haar, wusch ihr nicht die Kleider und zog sie auch nicht sauber an. Zugegeben – hin und wieder stellte sie sich das Mädchen in einem reizenden Rüschenkleid und mit hübschen Haarschleifen vor. Bisweilen träumte sie sogar davon, Esther zum Tee einzuladen, um das Kind vorzuzeigen, als wäre es ihr eigenes.
Doch nichts davon tat sie. Es waren alberne Gedankenspiele, die mehr mit ihren eigenen romantischen Vorstellungen von Kindheit zu tun hatten als mit diesem rätselhaften Wesen. Unter den Eitelkeiten und Nichtigkeiten verbarg sich ein einziger Herzenswunsch: das Mädchen zu berühren, seine Wangen zu streicheln, es im Arm zu halten und die frische Bergluft einzuatmen, die es mitbrachte. Mabel aber begnügte sich mit dem Lächeln der Kleinen, und allmorgendlich stand sie am Fenster und hoffte, dass sie an diesem Tag käme.
Eine Regelmäßigkeit konnte Mabel in den Besuchen nicht erkennen. Eine gute Woche lang erschien die Kleine jeden zweiten Abend, dann tauchte sie zwei oder drei Tage gar nicht auf. Eines Morgens kam sie und blieb bei Mabel in der Küche, anstatt sich wie sonst bei Jack im Stall aufzuhalten. Sie schaute zu, wie Mabel den Brotteig knetete, und es war, als habe sich ein Singvogel auf dem Fensterbrett niedergelassen. Mabel wollte die Kleine nicht durch abrupte Bewegungen verscheuchen und ahmte daher Jacks ruhige, selbstverständliche Art nach. Leise sprach sie mit dem Mädchen. Sie erklärte, wie man den Teig immer wieder mit Mehl bestäubt und durchknetet, bis er sich richtig anfühlt, gleichmäßig und geschmeidig. Sie erzählte der Kleinen von Jacks Tante, die sie das Brotbacken gelehrt hatte, und wie verblüfft diese gewesen war, dass es eine erwachsene, verheiratete Frau geben konnte, die das nicht beherrschte.
An jenem Abend blieb das Mädchen zum Essen. Jack kam aus dem Stall, und Mabel und die Kleine setzten sich zu ihm an den Tisch. Als das Mädchen den Kopf senkte, bevor Jack überhaupt das Tischgebet zu sprechen begann, blickten die beiden Erwachsenen einander in die Augen. Sie übernahm bereits ihre Gepflogenheiten.
Jack war ungewöhnlich heiter, er scherzte und erzählte von seinem Tagwerk, während sie die Schüsseln herumreichten. Einmal wandte er sich an das Mädchen mit der Bitte, ihm das Salz zu reichen, doch sie war so sehr mit dem Essen beschäftigt, dass sie nicht reagierte. Jack räusperte sich und pochte leise auf den Tisch.
Allmählich wird es albern, verkündete er.
Das Kind schrak zusammen, und er senkte die Stimme.
Irgendwie müssen wir dich ansprechen. Sollen wir auf immer und ewig «Kind» zu dir sagen?
Die Kleine schwieg. Jack reckte sich an ihr vorbei nach dem Salz, als gebe er die Hoffnung auf, jemals ihren Namen zu erfahren. Während Mabel noch wartete, aß Jack schon weiter.
Faina, flüsterte das Mädchen.
Was denn, Liebes?, fragte Mabel.
So heiße ich. Faina.
Sagst du’s noch einmal, langsam?
Fa-IH-na.
Jede Silbe ein leises Flüstern. Zunächst ergab der fremde Klang für Mabel keinen Sinn, so viele Vokale ohne Konsonanten, doch dann wehte sie daraus ein Waldrauschen an, ein eiskalter Windhauch – und sie erkannte darin das Mädchen an ihrem Tisch. Faina.
Was heißt das?, fragte Mabel.
Das Mädchen biss sich auf die Unterlippe und zog die Stirn kraus.
Du musst es sehen. Dann verstehst du es.
Dann hellte sich ihr Gesicht auf.
Aber ich zeige es dir. Irgendwann zeige ich dir, was es heißt.
Faina. Ein wunderschöner Name.
Na seht ihr, meinte Jack. Das macht die Sache doch einfacher, nicht wahr?
Als die Kleine an diesem Abend gegangen war, sagten sie immer wieder ihren Namen. Schließlich kam er ihnen leicht über die Lippen. Mabel gefiel es, wie er sich sprach, wie er in den Ohren klang: Hast du gesehen, wie Faina vor dem Essen den Kopf gesenkt hat? Ist Faina nicht ein schönes Mädchen? Was wird Faina bei ihrem nächsten Besuch wohl mitbringen? Sie waren wie Kinder, die Mutter und Vater spielen, und Mabel war
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