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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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mitziehen.
    Wo?
    Faina deutete aus dem Fenster.
    Draußen? In Ordnung. Ich komme. Ich hole nur meine Stiefel und den Mantel.
    Die Stifte auch?
    Ja, ja, und mein Skizzenbuch.
    Als Mabel die Tür öffnete, traute sie ihren Augen kaum. Tanzende Schneeflocken. Die erste Aprilwoche, und es schneite.
    Faina griff wieder nach Mabels Hand, und gemeinsam traten sie in den Hof hinaus. Obwohl Schnee fiel, lag Frühlingsduft in der Luft, der Geruch von auftauenden Bachufern, von feuchter Erde, altem Laub und jungem Grün, von Wurzeln und Baumrinde. Auf einmal wurde sich Mabel bewusst, wie sie da beisammenstanden, sie und das Kind, noch immer Hand in Hand, die von Faina so schmal und kühl – und Mabels Herz, das hohl in ihrer Brust lag, füllte sich wie ein Quell mit süßem, eisklarem Wasser.
    Zeichnest du sie?, fragte Faina leise.
    Die Schneeflocken? Ich habe keine Ahnung, wie ich das anfangen soll.
    Faina ließ Mabel los und reckte ihre Handfläche dem Himmel entgegen. Von ihrem Handgelenk baumelte ein Fäustling an seiner roten Kordel. Eine einzelne Flocke ließ sich auf Fainas bloßer Haut nieder. Das Kind wandte sich um und streckte sie Mabel hin.
    Kannst du sie jetzt zeichnen?
    Der Schneekristall war nicht größer als ein winziger Kleiderknopf. Sechs farnartige Spitzen hatte er und eine sechseckige Mitte. Wie eine zarte Daune lag er auf der Hand des Kindes, obgleich er doch hätte schmelzen müssen.
    Es war, als stünde die Zeit still – Mabel spürte weder ihren Atem noch ihren Puls. Was sie da sah, war unmöglich, und doch entpuppte es sich nicht als Trugbild. Auf der Handfläche des Kindes lag eine einzelne Schneeflocke, glänzend und durchscheinend, ein scharf geschnittenes Wunder.
    Bitte, zeichnest du sie?
    Groß blickten die blauen Augen unter den bereiften Wimpern sie an.
    Was blieb ihr anderes übrig? Ungeschickt blätterte Mabel das Skizzenbuch auf. Mit steifen Fingern nahm sie den Stift und begann zu zeichnen. Regungslos streckte Faina ihr die Schneeflocke hin.
    Vielleicht sollten wir hineingehen und uns dazu hinsetzen, sagte Mabel, doch sofort erkannte sie den Unsinn in ihren Worten. Die Kleine lächelte nur und schüttelte den Kopf.
    Ach nein, wir können wohl kaum ins warme Haus gehen, um eine Schneeflocke zu zeichnen, nicht wahr?
    Sie hatte ihre Zeichnung zu klein begonnen. Mabel merkte, dass sie unmöglich jedes Stäbchen, jede Linie festhalten konnte. Hätte sie doch nur ein Vergrößerungsglas. Sie schlug eine neue Seite auf.
    Mit symmetrischen Darstellungen hatte ich schon immer zu kämpfen, murmelte sie mehr zu sich selbst als zu dem Kind. Ich bin zu ungeduldig. Zu ungenau.
    Sie begann von neuem, zeichnete mit breiterem Strich und nutzte die gesamte Seite für diese eine geometrische Figur. Die eine Hand stützte das Skizzenbuch, mit der anderen führte sie den Stift. Dabei beugte sie sich ein wenig vor, um die Schneeflocke besser erkennen zu können. Doch ihre Atemluft – allein damit konnte sie den Kristall in einen winzigen Wassertropfen verwandeln! Sie wandte das Gesicht halb ab, um die Flocke nicht mit ihrem Atem zu streifen.
    Der Schnee hinterließ erste feuchte Tupfen auf dem Papier. Mabel arbeitete schneller und seufzte ärgerlich. Sie war mit ihrem Können so gar nicht zufrieden.
    Sie ist wunderschön, flüsterte Faina. Ich wusste es.
    Mabel blickte von ihrer Zeichnung zu der Schneeflocke auf der Handfläche des Mädchens.
    Ich kann die Einzelheiten später ausarbeiten. Sollen wir fürs Erste aufhören?, fragte sie.
    Ja.
    Die Kleine blies die Schneeflocke wie einen Pusteblumenschirm von ihrer Hand.
    Oh, entfuhr es Mabel. Ihr stiegen Tränen in die Augen, doch sie hätte nicht sagen können, warum.
    Wieder griff Faina nach Mabels Hand, lehnte sich an sie und drückte sie fest. Ringsherum landeten nasse Flocken. Die Welt war ohne einen Laut. Der Schnee fiel immer schwerer und nasser, und Mabels Mantel wurde klamm.
    Faina zupfte sie am Ärmel. Mabel beugte sich hinab. Sie dachte, die Kleine wollte ihr etwas ins Ohr flüstern, doch stattdessen gab ihr Faina mit kühlen, trockenen Lippen ein Küsschen auf die Wange.
    Ich gehe jetzt, sagte das Kind.
    Als Faina ihren Arm losließ und durch den Schnee davonlief, der nun schon Regen war, wusste Mabel Bescheid. Sie schob das Skizzenbuch unter ihren Mantel und blieb im Regen stehen, bis ihr Haar vor Nässe triefte, ihr Mantel völlig durchweicht war und ihre Stiefel im Schlamm steckten. Sie stand da und starrte in den Regen und versuchte, im Wald

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