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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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allem, wenn der Hang unter einer Schneedecke lag, doch die Bauweise schien nicht allein praktisch begründet zu sein. Die Behausung hatte etwas Abweisendes. Wer in diesen vier Wänden wohnte, führte ein Leben in Düsternis und Heimlichkeit.
    Die Luft roch abgestanden, sie erinnerte Jack an einen lange nicht mehr betretenen Dachboden, doch als er sich gründlicher in dem kleinen Raum umsah, stiegen ihm einzelne andere Gerüche in die Nase: Holz, Dörrfleisch, Trockenfisch, gegerbte Tierhäute, Wildkräuter. Über ihm hingen trockene Pflanzenbüschel von den Dachbalken. Wenn Jack sich aufrecht hinstellte, befand sich die Decke nur gute zwei Handbreit über seinem Kopf.
    Die Tür hinter ihm fiel mit einem dumpfen Schlag zu.
    «Faina?»
    Er schob sie wieder auf, aber da war niemand.
    Nun, in dieser nasskalten, verlassenen Hütte, machte er sich noch mehr Sorgen um das Kind als vorher. Unruhig ging er in dem engen Raum hin und her. Wäre sie nicht vor seinen Augen durch diese Tür verschwunden, hätte er nicht geglaubt, dass hier je ein kleines Mädchen gewohnt hatte. Es gab kein Spielzeug, keine Kleider, überhaupt keinerlei Kleidung in Kindergröße. Vielleicht war sie irgendwohin verschwunden und hatte alles mitgenommen? Er konnte unmöglich sagen, was hier einmal gewesen war und jetzt fehlte. Mit der Stiefelspitze stieß er an das verkohlte Holz in der Herdgrube. Kein Funken, kein Rauch. Die Feuerstelle war seit Tagen, wenn nicht seit Wochen kalt.
    Sein Blick fiel auf eine Schlafstelle aus geschälten Fichtenstämmen. Statt Decken und Laken dienten Karibu-Felle und andere gegerbte Häute als Bettzeug. In einer Ecke befand sich eine Art Behelfsküche mit einer Arbeitsfläche und Borden, auf denen allerlei Krimskrams versammelt war – Gläser mit Bohnen und Mehl, darüber hinaus jedoch kaum Essbares. An Holzpflöcken in der gegenüberliegenden Wand hingen Schneeschuhe, Äxte, Sägen und anderes Werkzeug zur Holzbearbeitung – Dinge, wie sie ein erwachsener Mann verwendete. Die Gerätschaften waren schmutzig und setzten ersten Rost an. Neben ihnen hingen ein paar Kleidungsstücke, darunter ein Parka mit Pelzbesatz, der selbst Jack zu groß gewesen wäre. Als er ihn herunternahm, vernahm er ein leises Klirren. In den Taschen fanden sich ein halbes Dutzend leere Flaschen. Jack hielt sie sich nacheinander unter die Nase. Manche rochen nach Lockstoffen wie tierischem Urin und Drüsensekreten, andere nach hochprozentigem Schwarzgebranntem. Peterswässerchen, so hatte das Kind dazu gesagt. Jack schüttelte den Kopf, um den Geruch aus der Nase zu bekommen, und hängte den Parka wieder an seinen Pflock. In einer anderen Ecke entdeckte er einen Stapel getrockneter Tierhäute: Biber, Wolf, Marder, Nerz.
    Er hatte sich bereits dem Ausgang zugewandt, da fiel ihm das Püppchen ein. Möglicherweise war es hier irgendwo. Er warf die Felle auf dem Bett zur Seite, fand jedoch nichts. Dann bemerkte er einen Kasten unter der Schlafstatt. Er ließ sich auf die Knie nieder und zog ihn hervor.
    Der Kasten enthielt eine rosa Babydecke, verschlissen und schmutzig, aber sorgsam zusammengelegt. Darunter lagen einige Schwarzweiß-Fotografien. Jack nahm sie heraus. Eine zeigte ein adrett gekleidetes Paar auf einem Schiffsanleger, neben sich Berge von Koffern und Reisetruhen. Sie wollten auf große Fahrt gehen. Er erkannte den Mann erst beim zweiten Hinsehen – auf dem Bild wirkte er weitaus jünger, hatte einen flotten Haarschnitt und keinen Bart. Die Frau an seiner Seite trug ein elegantes Kleid, und ihre feinen Gesichtszüge und die blonden Haare erinnerten Jack an Faina. Dies mussten ihre Eltern sein, vielleicht in Seattle vor der Einschiffung nach Alaska. Auf einer anderen Aufnahme hielt die Frau einen Säugling im Arm; das Kind war fest in eine Decke gewickelt, die zwar neu und sauber wirkte, doch Jack war sich ziemlich sicher, dass es sich um die Decke aus dem Kasten handelte. Ein anderes Bild zeigte den Mann im Parka mit Schneeschuhen und einem schiefen Grinsen im Gesicht. Er hatte kaum Ähnlichkeit mit dem fahlen Leichnam, den Jack in ein Erdloch gestoßen hatte, und doch war es derselbe Mann.
    Jack biss die Zähne zusammen. Wie konnte ein Mensch seine kleine Tochter allein in der Wildnis zurücklassen? Er legte die Fotografien und die Decke in den Kasten zurück und schob ihn unter das Bett. Seine Knie knackten beim Aufstehen, und er fühlte sich alt und verzagt. Die Kleine war verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt.
    Er sah sich

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