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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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hielt nicht mehr am Fenster Ausschau; ein ums andere Mal traf er sie so gedankenverloren vor der Schüssel mit schmutzigem Spülwasser an, als starre sie schon seit Stunden hinein. Dass er ins Haus gekommen war, schien sie bisweilen erst dann zu bemerken, wenn er ihr die Hand auf den Arm legte.
    Der Winter war so anders gewesen. Selbst wenn Faina nicht da gewesen war, hatte Jack sich auf die gemeinsamen Mahlzeiten gefreut. Am Tisch hatten sie Pläne für den Hof und für ihre Zukunft geschmiedet. Jack schlief nicht gleich nach dem Essen ein, sondern half, den Tisch abzuräumen. Als er Mabel das erste Mal zur Seite schob, um das Geschirr abzuwaschen, hatte sie sich theatralisch den Handrücken an die Stirn gelegt und so getan, als falle sie in Ohnmacht. Dabei hatte sie ihn unter halbgeschlossenen Lidern hindurch angesehen, bis er sie auf den lächelnden Mund küsste. Sie lachten und tanzten und liebten sich.
    Die ganze Freude war mit dem Kind davon.
    Er lief am Stall vorbei zum neuen Feld. Der Schlamm schmatzte unter seinen Stiefeln. Er trat einen Schritt zur Seite und ging auf dem unberührten Moos und Gras neben dem Pfad. An den ersten Birkenknospen zeigten sich winzige grüne Spitzen. Etwas huschte durch den Wald.
    «Faina?»
    Eine erneute Bewegung, rasch und undeutlich, aber so tief zwischen den Bäumen verborgen, dass er nichts weiter erkennen konnte. Ein Weg führte hier vom Feld in den Wald, und er folgte ihm. Vor drei Tagen hatte er Bärenspuren im Morast entdeckt und Losung auf dem Weg. Sein Gewehr hatte er nicht dabei, doch deswegen würde er jetzt nicht umkehren.
    Eine Woche ließ sich erklären: Vielleicht war sie auf die Jagd gegangen. Drei Wochen aber waren etwas anderes. Eine Erkrankung, eine nasse Schneelawine, morsches Eis auf dem Fluss. Sämtliche grausigen Möglichkeiten zählte Jack sich auf, während er mit langen Schritten durch den Wald eilte.
    Entblößt lag das Land da, ohne Schnee und ohne sommerliches Grün. Zu seinen Füßen entrollten sich Farntriebe, und winzige Schösslinge schoben sich durch das vorjährige Herbstlaub. Er stieg die Hänge so schnell hinauf, wie sein altes Herz es zuließ. Als er schließlich vor der steilen Felswand stand, erkannte er, dass er vom Kurs abgekommen war und den Bach verfehlt hatte. Er folgte einem Wildwechsel unterhalb der Felsen, duckte sich immer wieder unter Erlengestrüpp hindurch, bis er Wasser rauschen hörte. Seine Ohren wiesen ihm den Weg zu dem von der Schneeschmelze angeschwollenen Bach. Der Lärm war ohrenbetäubend.
    Am Wasser entlang stieg er weiter bergauf, bis er einen Kamm erklommen hatte und vor sich das hohe Fichtendickicht erblickte, das er nur zu gut kannte. Dort stand der Stumpf des Baumes, den er gefällt und verbrannt hatte. Jemand hatte Steine auf das Grab geschichtet. Faina musste sie vom Bach geholt haben.
    «Faina? Faina! Bist du da?» Das Tosen des Bachs übertönte sein Rufen. «Faina? Ich bin’s, Jack! Hörst du mich?»
    Ihm fiel die kleine Tür im Berg ein, durch die das Mädchen damals verschwunden war. Mehrmals tastete er den Hang mit Blicken ab, bevor er sie entdeckte. Sie sah aus wie eine ganz normale, aus rohen Planken gezimmerte Haustür, war aber so niedrig, dass ein Erwachsener sich beim Eintreten bücken musste. Und sie hing nicht im Türrahmen eines Hauses, sondern war in einen Grashügel gesetzt. Es führten weder Spuren hinein noch heraus. Als er kräftig anklopfte, schwang das Türchen an ledernen Angeln nach innen.
    «Faina? Liebes, bist du da?»
    Er hoffte inständig, sie jetzt nicht zusammengekauert im Bett vorzufinden, krank oder halb verhungert oder in noch schlimmerem Zustand. Drinnen war es nicht so düster, wie er erwartet hatte. Irgendwo über ihm drang Tageslicht herein.
    «Faina?»
    Keine Antwort. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das spärliche Licht. Die Wände ringsum bestanden aus grob mit der Axt begradigten Stämmen. In der Holzdecke befand sich ein viereckiges Loch, nicht viel größer als ein Ofenrohr. Genau darunter, eingefasst von den Bodenplanken, war eine große, ebenfalls viereckige Feuerstelle in den nackten Erdboden gegraben, die kalte, verkohlte Reste von Holzscheiten barg.
    Der Erbauer dieses Wohnraums hatte sich in den Hügel vorgegraben und die Ausschachtung mit Bohlenwänden ausgekleidet. Das Dach hatte er mit Grassoden gedeckt. So sah die kleine Hütte aus wie ein Grashügel, sie verschmolz mit dem Berghang. Wahrscheinlich war der Raum so besser vor der Kälte geschützt, vor

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