Das Schneemädchen (German Edition)
etwas zu erkennen, doch sie wusste Bescheid.
Kapitel 21
Der Winter war eine einzige dumme Zeitverschwendung gewesen. Jack hatte das eine oder andere im Stall erledigt, Gerätschaften in Ordnung gebracht, Hühner gerupft, im Schnee gespielt. Er hätte sich während der kalten Jahreszeit besser vorbereiten sollen, aber wie? Es war schon wahr, was man sich über dieses Land erzählte: Die gesamte Arbeit musste in wenigen hektischen Monaten getan werden. Dass es überhaupt möglich war, hier Ackerbau zu betreiben, lag nur daran, dass die Sonne im Sommer zwanzig Stunden am Tag vom Himmel schien und das Gemüse sozusagen über Nacht zu gewaltiger Größe heranwuchs. George hatte erzählt, er habe einmal einen frisch geernteten Kohlkopf gesehen, der wohl knapp einen Zentner wog.
Doch jetzt hatten sie schon Mai, und noch immer konnte Jack keine Furche pflügen, ohne dass das Pferd fast bis zum Halse im Schlamm steckte. Daheim waren die Felder schon seit einem Monat bestellt. Während Jack darauf wartete, dass der Boden taute und das Wasser abzog, hörte er eine Uhr ticken – jedoch nicht die, die die Minuten des Tages anzeigte, sondern eine lautere, die seine eigenen Tage herunterzählte.
In dieser Saison musste der Hof sich tragen. Jack setzte seine Hoffnung auf die Tatsache, dass mehrere Farmer aufgegeben hatten – obgleich sich die Absatzmöglichkeiten durch den Streckenausbau der Eisenbahn eigentlich verbessern mussten, hatten sie ihr Land einfach verlassen. Dieses Jahr würde er aufs Ganze gehen. Er wollte nicht nur Kartoffeln pflanzen, sondern zusätzlich Möhren, Salat und Kohl ziehen und den ganzen Sommer lang Gemüse an die Bergarbeitersiedlungen liefern.
Mabel und er sprachen kaum miteinander; jeder Wortwechsel geriet zum Disput. Er sagte ihr, dass er eigentlich in der Stadt ein paar Burschen anheuern müsste, als Aushilfen für die Pflanzzeit, dass sie aber kein Geld dafür hätten.
«Dann müssen wir eine andere Lösung finden», entgegnete Mabel und starrte abwesend auf ihre Hände.
«Wie willst du denn eine andere Lösung finden? Und was für eine überhaupt?» Seine Stimme erhob sich im Zorn. Ruhiger fuhr er fort: «Ich bin kein junger Mann mehr. Der Rücken tut mir weh, und am Morgen kann ich die Hand kaum zur Faust ballen. Ich brauche Hilfe.»
«Wer sagt denn, dass du alles allein machen musst? Wozu bin ich denn da?»
«Du bist doch kein Feldarbeiter, Mabel. Und ich werde nicht zulassen, dass du dich dazu machst.»
«Nein, lieber schuftest du dich da draußen zu Tode, und mich lässt du hier drinnen hocken, damit jeder für sich leiden kann.»
«Das wollte ich nie. Aber es führt nun einmal kein Weg daran vorbei, wir sind nur zu zweit. Einer muss sich ums Haus kümmern, und einer muss für das Auskommen sorgen.» Wieder einmal kamen sie vor der großen Leere zu stehen, die zwischen ihnen lag – die Leere, die ein Kind hätte füllen sollen. Ein Mädchen, das Mabel bei der Hausarbeit helfen konnte. Ein Junge für die Feldarbeit.
«Was ist mit dem Hotel? Vielleicht kann ich ja wieder für Betty backen.»
«Ich dachte, wir wären hierhergekommen, um einen Hof aufzubauen, nicht um Kuchen zu verhökern wie die Zigeuner. Dieses Jahr entscheidet es sich. Wenn uns das Land hier jemals ernähren soll, dann muss es in diesem Jahr klappen. Aber ich weiß einfach nicht, wie ich es allein schaffen soll.» Er stürmte aus dem Haus und verkniff es sich mühsam, die Tür zuzuknallen.
Schon als Junge hatte Jack den Geruch des Bodens geliebt, wenn er im Frühjahr auftaute und neues Leben hervorbrachte. Doch in diesem Frühling war es anders. Klamme, schale Trostlosigkeit, ja fast so etwas wie Einsamkeit hatte sich über das Gehöft gelegt. Anfangs hätte Jack nicht sagen können, woher sie rührte. Vielleicht war es nur seine eigene Stimmung. Möglicherweise auch die typische Frühjahrswitterung – der trübe Himmel und der eiskalte Regen, der durch die Wände des Blockhauses drang. Auch Mabel schien von einer düsteren Unruhe besessen.
Dann zählte Jack die Tage – fast drei Wochen waren seit dem letzten Besuch des Mädchens vergangen, die längste Abwesenheit, seit die Kleine in ihr Leben getreten war. Er versuchte, seine Gedanken auf die bevorstehende Pflanzzeit zu richten, doch die Sorge blieb.
Ihren Namen hatte schon lange keiner von beiden mehr ausgesprochen. Ihr Stuhl blieb leer, und Mabel stellte ihr keinen Teller mehr hin. Jack sorgte sich ebenso sehr um seine Frau wie um das Mädchen. Mabel
Weitere Kostenlose Bücher