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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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weitaus umgänglicher. Genau genommen erwies er sich als geduldiger Lehrer, der sie außerdem ernst nahm. Er traute Mabel die Arbeit zu, und das zu Recht – bald war sie mit dem Messer genauso geschwind wie er.
    Die Sonne stieg höher in den Himmel und schien Mabel warm auf den Kopf, während sie eine zerschnittene Kartoffel nach der anderen in den Jutesack warf. Schon war es Essenszeit, der Morgen war unbemerkt verflogen. Der Junge folgte ihr ins Haus und half ihr beim Aufschneiden von kaltem Elchfleisch und Brot vom Vortag. Nachdem Esther Jack zurück ins Bett geholfen hatte, aßen die drei rasch im Stehen. An Mabels Händen klebten noch Spuren von Erde, und die Ärmel hatte sie hochgeschoben.
    Sie ging mit hinaus, um die Saatkartoffeln aufzuladen. Erst als sie Garrett einen schweren Kartoffelsack auf den Wagen hinaufreichte, wurde ihr klar, womit sie da beschäftigt war: Feldarbeit.
    Der Junge bemerkte ihr nachdenkliches Zögern gar nicht; er packte die Säcke, verstaute sie auf der Ladefläche und sprang herab. Esther lenkte den Wagen Richtung Feld, und Mabel und Garrett folgten.
    «Es geht mich zwar eigentlich nichts an», sagte Garrett zu ihr, «aber das Kleid könnte bei der Arbeit im Weg sein. Eine Hose oder so was haben Sie nicht, oder? Ma zieht dabei immer eine Latzhose an.»
    «Nein, so was habe ich nicht. Es muss auch im Kleid gehen.»
    Garrett blickte skeptisch drein, ging jedoch wortlos weiter.
    Esther verteilte die Kartoffelsäcke auf dem Feld, spannte das Pferd vor das Ackergerät und begann, die erste Pflanzreihe aufzuwerfen. Garrett und Mabel machten sich hinter ihr an die Arbeit. Der Junge zeigte Mabel, in welchem Abstand die Kartoffeln zu setzen waren und wie tief sie das Loch dafür stechen sollte. Er folgte ihr, schob das Loch wieder zu und klopfte die Erde leicht an. Den Kartoffelsack zogen sie mit sich.
    Nach einer Weile verfielen sie in einen gleichmäßigen Rhythmus, und Mabel ließ ihre Gedanken schweifen. Sie arbeitete mit bloßen Händen, spürte die warme, krümelige Erde an den Fingern, dachte an sprießendes Grün und verrottendes Laub. Sie richtete sich auf, schüttelte ihren Rock aus, bückte sich erneut, machte ein weiteres Loch, ließ eine Setzkartoffel hineinfallen, noch ein Loch, noch ein Kartoffelstück. Sie drückte die Hand auf den Erdhügel, fast ein kleines Grab.

    Hier auf dem Kartoffelfeld waren die Farben zu grell, das Sonnenlicht zu gelb, der Himmel zu blau. Selbst die Luft war anders als in Pennsylvania, trockener und reiner. Viel Zeit war verstrichen, mehr als zehn Jahre. Und doch fühlte sich Mabel in der Zeit zurückversetzt, während sie dort kniete. Bleigraues Mondlicht. Die Wege durch den Obstgarten. Rauer Boden unter ihren Knien. Ein totes Kind, seit zwei Tagen begraben.
    Sie hatte Jack schlafend im Bett zurückgelassen und war im Nachthemd nach draußen gegangen. Wund und entkräftet war sie von den langen Wehen, und sie hätte nicht sagen können, was sie über die Kiesauffahrt bis in den Obstgarten zog, wo die Bäume braun und kahl im bläulichen Mondschein aufragten.
    Hier musste er das Grab ausgehoben haben, hier in dem Boden, den seine Familie schon seit Generationen bestellte. Sie kroch zwischen den Bäumen umher, bis Knie und Handflächen aufgeschürft waren, fand nichts und stand schließlich auf. Da verspürte sie ein schmerzhaftes Ziehen in der Brust, und auf einmal tropfte Milch an ihr herab, durchnässte ihr Nachthemd, tröpfelte auf ihren Bauch, rann sinnlos auf den Boden.
    Dieses Leid werde ich nicht überleben, hatte sie damals gedacht.

    «Alles in Ordnung?»
    Garretts Schatten fiel auf ihr Gesicht, und sie wusste nicht, wie lange sie schon dort am Boden kniete.
    «Ja. Ja, alles in Ordnung», erwiderte Mabel. Sie wischte die schmutzigen Hände am Kleid ab. «Ich musste nur an etwas denken.»
    Als sie zu ihm aufblickte, wurden Garretts Augen groß.
    «Sind Sie sicher, dass nichts ist? Weil … Na ja, Sie sehen etwas mitgenommen aus.» Der Junge deutete auf ihr Gesicht. Ihr waren wohl ein paar Tränen über die staubigen Wangen geronnen, die Spuren mussten schauderhaft aussehen.
    «Alte Frauen sind nun mal rührselig», sagte sie und suchte nach etwas, womit sie sich das Gesicht abwischen konnte.
    Garrett starrte sie noch immer an.
    «Sag nicht, du hast noch nie eine Frau weinen sehen.»
    Er zuckte die Achseln.
    «Nein? Na, vielleicht nicht. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass deine Mutter einfach losheulen würde.»
    «Sollen wir

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