Das Schneemädchen (German Edition)
zurückgehen? Brauchen Sie eine Pause?»
«Nein, nein. Nur irgendwas, womit ich mein Gesicht abwischen kann.»
Der Junge suchte in seinen Taschen nach einem Tuch, und als er nichts fand, rollte er seinen Hemdärmel herunter und bot ihr die Manschette an. «Ist zwar nicht ganz sauber, aber nehmen Sie’s ruhig.»
Mabel lächelte und tupfte ihre Augen mit dem Ärmel trocken. «Danke.»
Der Junge wollte sich wieder zu dem Kartoffelsack bücken, als sie mit beiden Händen seinen Arm festhielt. «Ich wollte dich schon immer etwas fragen, Garrett.»
«Ja bitte?»
«Hast du nach dem Silberfuchs noch mal einen Fuchs gefangen?»
«Nein, Ma’am, nicht einen einzigen», erwiderte er. Er musterte sie nachdenklich. «Hätten Sie gern einen Fuchsbesatz? Falls ja, ich habe vom letzten Jahr noch ein paar Pelze. Betty könnte mit Sicherheit was draus nähen.»
Doch Mabel bückte sich bereits wieder, um das nächste Pflanzloch zu stechen.
Sie hatte überlebt, nicht wahr? Obgleich sie am liebsten im nächtlichen Obstgarten liegen geblieben und in ihr eigenes Grab gesunken wäre, war sie durch die Dunkelheit nach Hause gestolpert, hatte sich gewaschen und am Morgen Jack das Frühstück bereitet. Sie hatte die Teller abgeräumt und Tisch und Arbeitsflächen gescheuert. Sie hatte Brot gebacken. Sie hatte gearbeitet und versucht, nicht auf ihre schmerzhaft geschwollenen Brüste und die leeren Krämpfe in ihrem Unterleib zu achten. Und dann hatte sie das Undenkbare getan: Sie war ins Kinderzimmer gegangen und hatte ihre Hände auf das Kinderbettchen aus Eichenholz gelegt, in dem bereits Jack geschlafen hatte und vor ihm seine Mutter. Sie hatte über den pastellfarbenen Quilt gestrichen, den sie genäht und gestickt hatte, und dann war sie schwer vor Trauer in den Schaukelstuhl gesackt und sitzen geblieben, die Hände auf dem schlaffen Bauch, und hatte daran gedacht, was es für ein Gefühl gewesen war, einen anderen Menschen in sich heranwachsen zu spüren.
Als der Schwächeanfall vorüber war, machte sie sich daran, die winzigen Kleidungsstücke, die Decken und Stoffwindeln zusammenzufalten und in einfache braune Kisten zu legen. Schluchzen überkam sie und verzerrte ihre Gesichtszüge, ihre Augen tränten, und ihre Nase lief, doch sie hielt nicht inne. Als sie aufblickte, stand Jack in der Tür, beobachtete sie stumm und wandte sich dann voller Unbehagen ab, unangenehm berührt von ihrer entfesselten Trauer. Er legte ihr nicht die Hand auf die Schulter. Nahm sie nicht in den Arm. Sprach kein Wort. Selbst nach all diesen Jahren konnte sie ihm das nicht verzeihen.
Am Ende der Reihe angelangt, richtete Mabel sich auf, stützte beide Hände ins Kreuz und streckte sich. Ihr Rocksaum war verdreckt, ihre Hände waren staubig und müde. Sie ließ ihren Blick bis zum Ende des Feldes gleiten und sah, was sie geschafft hatten. Garrett klopfte seine Hände an den Hosenbeinen ab.
«Eine Reihe hätten wir», meinte er. «Bleiben noch rund tausend.» Und mit hochgezogenen Augenbrauen grinste er sie schief an, als wollte er fragen: «Na, sind Sie noch dabei?»
Mabel nickte.
«Weiter geht’s?», fragte sie.
Garrett reckte die Hand in die Höhe wie ein Eroberer.
«Weiter geht’s!»
Als Esther am Ende einer Reihe wendete, zügelte sie das Pferd und winkte den beiden zu. Mabel winkte zurück. Ein leichtes Lüftchen blies ihr lose Haarsträhnen ums Gesicht und trocknete ihren Schweiß. Über ihnen strahlte der Himmel blau und wolkenlos. Weit hinter den Baumwipfeln sah sie weiße Gipfel leuchten. Mabel lupfte ihren Rock und trat über die Reihe hinweg, die sie gerade gesetzt hatten. Garrett zog den Kartoffelsack zu ihr herüber, und sie begannen von neuem.
Sie arbeiteten bis zum Einbruch der Dämmerung, und als sie endlich beim Haus anlangten, war die übliche Essenszeit lange verstrichen. Jack hatte Lampen angezündet und war dabei, Steaks zu braten.
«Nanu, was ist denn das?», fragte Esther. Sie sog genüsslich die Luft ein und grinste. «Da duftet aber was!»
«Viel kann ich ja nicht tun. Da habe ich mir gedacht, dann sollte ich meine Helfer wenigstens füttern.» Er lächelte verlegen.
Die folgenden Tage verschwammen in einem Strudel aus Kartoffeln, Erde, Sonne und schmerzenden Muskeln, während sie Pflanzreihe um Pflanzreihe hinter sich brachten. Jack trug bei, so viel er konnte, blieb aber meist im Haus und bereitete die Mahlzeiten zu. Abends waren alle so müde, dass sie kein Wort mehr sprachen. Der Junge nickte am Esstisch
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