Das Schneemädchen (German Edition)
ein, das Kinn auf die schmutzigen Hände gestützt. Mabel war taub vor Erschöpfung. Sie hatte nie verstanden, wie Jack auf dem Stuhl einschlafen konnte, ohne sich zu waschen, ohne ihr von seinem Tag zu erzählen oder auch nur seine dreckigen Stiefel auszuziehen. Jetzt begriff sie es. Doch trotz des Muskelkaters und der eintönigen Arbeit erfüllten diese Tage der Schufterei auf dem Feld sie mit einem nie gekannten Stolz. Das Haus erschien ihr nicht mehr primitiv; am Ende des Tages war sie nur noch dankbar für das warme Essen und das Bettzeug, auf das sie sich sinken lassen konnte. Ob die Teller gespült wurden oder der Fußboden gefegt war, nahm sie gar nicht wahr.
«Ich glaube, wir haben’s geschafft, Jack», verkündete Esther eines Nachmittags, die Hände in die Seiten gestemmt. «Ich weiß, dass du dieses Jahr eigentlich mehr vorhattest und außer Kartoffeln auch noch Salat und so weiter ziehen wolltest. Aber die Kartoffeln sind jetzt im Boden, und ich würde sagen, wir warten erst einmal ab, wie sich alles entwickelt.»
Jack nickte. Vielleicht würde es reichen, um über die Runden zu kommen.
«Ohne euch stünden wir jetzt nicht hier.» Jacks Stimme klang rau und aufrichtig, doch in seinen Augen lag ein Schatten, in dem Mabel Scham zu lesen glaubte. «Ich weiß nicht, wie wir euch das je vergelten können.»
Esther schnitt ihm mit einer ungeduldigen Geste das Wort ab und verkündete, sie habe vor, am Abend nach Hause zurückzukehren.
«Es war eine Riesengaudi, aber allmählich fehlt mir doch mein eigenes Bett samt schnarchendem Ehemann. Jack, dir geht’s immer besser, und ich denke, Garrett kommt mit den Feldern klar. Nichts da – kein Wenn und Aber. George und ich haben das längst besprochen. Garrett leistet hier mehr, als er je zu Hause getan hat, und bei uns sind wir sowieso mit dem Pflanzen fertig. Ihr könnt ihm ja einen Schlafplatz im Stall einrichten, dann ist er euch nicht im Weg. Und ihr beiden habt das Haus endlich wieder für euch.»
Es war an der Zeit, und doch graute Mabel davor. Jack war vollkommen verändert, unsicher und von Zweifeln geplagt. Sie konnte nicht vergessen, wie er in den schlimmsten Nächten geweint und gefleht hatte, sie möge ihn verlassen. Und dann war sie aufs Feld hinausgegangen und hatte mit einer ganz neuen Kraft und Selbstsicherheit gearbeitet, während er mühsam durch die Gegend humpelte. Wenn Esther und Garrett fort waren, würden sie wieder das Bett miteinander teilen, und sie hatte die leise Befürchtung, sich neben ihm ganz fremd zu fühlen. Jack sah sie traurig an, als könne er ihre Gedanken lesen.
Nach dem Abendessen machte Esther sich auf den Weg, und Mabel zeigte Garrett den Heuboden über dem Stall. Er brachte sein Deckenlager mit, und sie gab ihm eine umgedrehte Holzkiste als Nachttisch. Sie stellte eine Laterne und eine Uhr darauf und legte ein Buch daneben.
« Wolfsblut , von Jack London. Hast du das schon mal gelesen?»
«Nein, Ma’am.»
«Bitte, sag doch einfach Mabel zu mir. Ich glaube, es wird dir gefallen, aber wenn nicht, dann sag nur Bescheid – ich habe Dutzende anderer Bücher.»
Die Ermahnung, mit der Laterne vorsichtig umzugehen, verkniff sie sich. Er hatte sie als ebenbürtig behandelt, also würde sie dasselbe versuchen.
«Komm rüber, wenn dir irgendwas fehlt, und sei es auch nur ein wenig Gesellschaft.»
«In Ordnung, Ma’am – ich meine, Mabel.»
«Garrett, ich wollte dich noch was fragen.»
«Ja?»
«Als du im Winter draußen im Wald Fallen gestellt hast, hast du da jemals etwas Ungewöhnliches gesehen? Spuren im Schnee? Irgendwas, das du dir nicht erklären konntest?»
«Sie meinen das kleine Mädchen, nicht wahr? Ich habe davon gehört.»
«Und? Hast du jemals etwas gesehen, das auf sie hingedeutet hat?»
Langsam und bedauernd schüttelte der Junge den Kopf.
«Gar nichts? Nicht ein einziges Mal?»
«Tut mir leid», sagte er.
Die Nacht war kalt, und Jack hatte Feuer gemacht. Das schmutzige Geschirr hatten sie einfach auf der Küchenanrichte gestapelt, und Mabel saß vor dem Ofen und streckte die Füße der Wärme entgegen. Sie hätte nicht sagen können, wann sie jemals so müde gewesen war. Ihre Muskeln schmerzten und pochten. Sobald sie die Lider schloss, sah sie Pflanzreihen vor sich, die sich bis zum Horizont erstreckten. Langsam schwebte sie über den Boden dahin.
«Mabel, du schläfst ein. Lass uns ins Bett gehen.»
Jack massierte ihr die Schultern. «Das war alles zu viel für dich.»
«Nein, nein.»
Weitere Kostenlose Bücher