Das Schneemädchen (German Edition)
Besonderes …» Er merkte, dass sie es ihm verraten wollte.
«Nun sag schon. Heraus mit der Sprache. Du guckst wie eine Katze, der der Schwanz vom Goldfisch noch aus dem Maul hängt.»
«Na gut. Es ist für Faina. Ein neuer Wintermantel. Ich glaube, ich weiß jetzt auch, wie ich den Besatz hinbekomme.» Mabel stand auf und hielt sich die zugeschnittenen Teile an. Sie legte sich den blauen Walkstoff so an die Brust und über die Arme, als wären die Teile zusammengenäht. Dann nahm sie ein paar Streifen weißes Fell zur Hand.
«Für Faina?»
«Ja. Wird der nicht wunderschön? Das hier ist Kaninchenfell. Schneeschuhhase, genau genommen. Ich habe Garrett darum gebeten. Ich habe ihm gesagt, dass ich etwas nähe. Er sagt, weicheres Fell gäbe es nicht. Und das stimmt, fühl einmal.»
Also damit hatte sie in den vergangenen Tagen ihre Zeit zugebracht. Hierfür war sie spätabends aufgeblieben, hatte in ihrem kleinen Notizheft gezeichnet, lächelnd und beschwingt. Am liebsten hätte er ihr das Ding aus den Händen gerissen und zu Boden geschleudert. Ihm war übel, sein Kopf schwamm.
«Gefällt er dir nicht? Weißt du, als wir sie das letzte Mal gesehen haben, ist mir aufgefallen, wie ausgefranst und abgetragen ihr Mantel ist. Und er war ihr schon im vergangenen Winter fast zu klein, ihre Handgelenke schauten heraus. Ich war mir mit der Größe nicht so sicher, aber dann habe ich versucht, mich zu erinnern, wie groß sie aussah, als sie auf diesem Stuhl saß, und wie schmal ihre Schultern waren.»
Mabel breitete den Mantel auf dem Tisch aus und nahm ein paar Garnrollen zur Hand. Ihr Gesicht strahlte. «Er wird wunderschön, das weiß ich. Ich hoffe nur, dass ich rechtzeitig fertig werde.»
«Rechtzeitig wozu?»
«Zu ihrer Rückkehr.» Sie sprach es aus, als könne nichts offensichtlicher sein.
«Wie kommst du darauf?»
«Worauf?»
«Himmel noch mal, Mabel, sie kommt nicht zurück. Begreifst du das nicht?»
Sie trat einen Schritt zurück, die Hände an die Wangen gelegt. Er hatte sie erschreckt, doch dann blitzten ihre Augen auf. «Doch, sie kommt.»
Sie legte den Mantel zusammen und trieb zornig eine Stecknadel nach der anderen in das kleine tomatenrote Nadelkissen. Jack setzte sich an den Ofen. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen, die Finger im Haar, um Mabel nicht anschauen zu müssen. Er hörte sie an der Anrichte mit dem Geschirr klappern und mit Tassen knallen, dann ging sie zur Schlafkammer. In der Tür blieb sie stehen. Er blickte nicht auf. Sie war außer Atem, ihre Stimme klang leise und scharf.
«Sie kommt zurück. Und verdammt noch mal, Jack, weder du noch sonst jemand wird mir etwas anderes einreden.»
Sie nahm die letzte brennende Lampe mit ins Schlafzimmer, und Jack blieb allein im Dunkeln zurück.
Kapitel 26
In einem Traum hatte Mabel Schnee gesehen, und mit ihm kam die Hoffnung. Der Mantel des Mädchens, so blau wie ihre Augen, ihr weißblondes Haar, das aufleuchtete, als sie die Berghänge hinunterhüpfte und sprang. In dem Traum lachte Faina, und ihr Lachen war wie Glockenklang in der Kälte, sie tänzelte zwischen den Findlingen, und wo ihre Füße den Fels berührten, wuchs Eis. Singend wirbelte sie über die Tundra, die Arme zum Himmel ausgebreitet, und hinter ihr fiel Schnee, und es schien, als zöge sie in ihrem Lauf einen weißen Umhang über die Berge.
Als Mabel am Morgen erwachte und im Schlafzimmer aus dem Fenster schaute, sah sie den Schnee. Nur eine dünne Schicht auf den fernen Gipfeln, doch die sagte ihr, dass es mehr als ein Traum gewesen war.
Das Kind musste nicht sterben. Vielleicht hatte es sie doch nicht für immer verlassen. Es mochte nach Norden gegangen sein, in die Berge, wo der Schnee niemals schmolz, und käme im Winter womöglich zurück zu dem alten Mann und der alten Frau in ihrem kleinen Haus nahe der Siedlung.
Mabel musste es sich nur fest genug wünschen und daran glauben. Ihre Liebe wäre für das Kind ein Leuchtfeuer. Bitte, Kind. Bitte. Bitte komm zurück zu uns.
Wie sie es in Gedanken auch wendete, stets führte die Spur des Kindes Mabel zurück zu dem Abend, an dem sie und Jack es aus Schnee gebaut hatten. Jack hatte ihm Lippen und Augen gemacht. Mabel hatte ihm ihre Fäustlinge gegeben und die Lippen rot gefärbt. In jener Nacht war ihnen das Kind geboren worden, aus Eis und Schnee und Sehnsucht.
Was war geschehen in dem kalten Dunkel, da Frost die Strohhaare des Kindes in einen Strahlenkranz
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