Das Schneemädchen (German Edition)
ausgemalt hatte. Aber wie sollte sie ihm das erklären? Mit jemandem wie Esther als Mutter war es ihm sicherlich unverständlich, wenn eine Frau etwas tat, das sie gar nicht wollte oder, schlimmer noch, wenn sie nicht wusste, was sie wollte. Es war, als hätte Mabel in einem tiefen Loch gelebt – so bequem und sicher es da auch gewesen sein mochte –, und er hätte lediglich die Hand zu ihr hinabgestreckt und sie ins Sonnenlicht gezogen. Von hier an stand es ihr frei, zu gehen, wohin es ihr beliebte.
«Garrett, ich habe mir überlegt, du könntest dir doch ein Buch ausleihen und es mit nach Hause nehmen. Nur wenn du möchtest, natürlich.»
«Wirklich? Wenn Sie nichts dagegen haben? Ich gehe auch ganz vorsichtig damit um.»
«Das weiß ich. Sonst würde ich es dir nicht anbieten.» Mabel ging mit ihm ins Schlafzimmer und kniete sich hin, um den Reisekoffer hervorzuziehen.
«Lassen Sie mich das machen.» Er zerrte den Koffer mit einem Schwung unter dem Bett hervor. «Ist der voll mit Büchern? Das ganze Ding?»
«Das, und ein paar andere noch dazu.» Garretts Verblüffung brachte sie zum Lachen. «Du hättest einmal die Bibliothek meines Vaters sehen sollen. Ein Zimmer, fast so groß wie das ganze Haus hier, und ein Regal am anderen. Aber ich konnte nur ein paar mitnehmen.»
«Vermissen Sie sie?»
«Die Bücher?»
«Und Ihre Familie? Und alles Übrige? Es ist dort doch bestimmt ganz anders als hier.»
«Ach, manchmal wünschte ich mir schon, ich hätte ein bestimmtes Buch da oder könnte manche Freunde und Verwandte besuchen, aber im Großen und Ganzen bin ich gerne hier.» Mabel öffnete den Koffer, und Garrett begann, aus den Stapeln darin Bücher herauszuziehen.
«Lass dir Zeit. Deine Mutter erwartet dich erst zum Abendessen.» Sie stand auf und klopfte sich den Rock ab. Als sie schon an der Tür war, hörte sie Garrett sagen: «Danke, Mabel.»
Sie hätte gern ihrerseits Dankbarkeit bekundet, ihm zu erklären versucht, was er für sie getan hatte.
«Gern geschehen, Garrett.»
Kapitel 27
Liebste Ada!
Meinen Glückwunsch zu Deinem neuen Enkelkind. Was für ein Segen! Und sie noch dazu alle so nah bei Dir zu haben. Es muss herrlich sein, das Trappeln der vielen Kinderfüßchen auf den alten Holzstufen zu hören, wenn sie zu Besuch kommen. Die Nachricht von Tante Harriets Heimgang hat mich sehr traurig gestimmt, aber nach dem, was Du schreibst, hat sie die Welt so verlassen, wie man es sich nur wünschen kann, friedlich und in hohem Alter. All Deine Neuigkeiten von der Familie waren ein kostbares Geschenk für mich.
Es geht uns gut hier, und das meine ich ganz aufrichtig. Ich weiß, dass Ihr uns für verrückt gehalten habt, als wir beschlossen, nach Alaska zu ziehen, und eine Zeitlang hatte ich selbst meine Zweifel. Doch das vergangene Jahr hat uns für alles entschädigt. Ich helfe nun mehr auf der Farm mit. Stell Dir mich vor – die ich immer als «zaghaft» und «zart» galt – auf dem Feld, beim Kartoffelnausbuddeln und Umgraben. Aber es ist ein wundervolles Gefühl, Arbeit zu verrichten, die richtig nach Arbeit schmeckt. Jack hat dieses ungebärdige Stück Land, das wir unsere Heimat nennen, in eine blühende Farm verwandelt, und nun kann ich mit Fug und Recht behaupten, auch ein wenig dazu beigetragen zu haben. Die Borde in unserer Vorratskammer sind wohlbestückt mit Wildbeerenmarmeladen und eingelegtem Fleisch von dem Elch, den Jack diesen Herbst geschossen hat. Oh ja, mitunter vermisse ich den «Fernen Osten», wie sie hier im Spaß sagen, und natürlich sehnt sich mein Herz schmerzlich nach Dir und der ganzen Familie, aber vor kurzem haben wir uns entschieden, für immer hierzubleiben. Das Land ist uns zur Heimat geworden, und unsere neue Lebensweise behagt uns sehr.
Ich lege Dir einige meiner neuesten Skizzen bei. Eine zeigt das Erdbeerfeld, auf das ich so stolz bin und das uns diesen Sommer manch einen Erdbeerkuchen beschert hat. Auf der anderen siehst Du blühende Weidenröschen am Flussbett und im Hintergrund die Berge, die dieses Tal umrahmen. Die letzte schließlich zeigt eine Schneeflocke, die ich zu meiner Freude im vergangenen Winter genau in Augenschein nehmen konnte. Ich habe diese einzelne Schneeflocke immer und immer wieder gezeichnet, sie ist so unendlich anmutig in ihrer Winzigkeit, dass ich ihrer nie müde werde.
Zwischen diesen Seiten steckt außerdem ein gepresster Moosbeerenstrauß. Getrocknet machen die kleinen weißen Blüten nicht allzu viel her, aber sie sind
Weitere Kostenlose Bücher