Das Schneemädchen (German Edition)
Scheune, um seine Schrotflinte zu holen.
«Wir sind nicht lange weg», sagte Jack im Hinausgehen über die Schulter, bezweifelte aber, dass Mabel ihn gehört hatte. Sie saß am Tisch über die Näharbeit gebeugt, die sie jeden Abend beschäftigt hielt, und tiefe Zuneigung durchströmte ihn.
Dass sie an seiner statt den Hof bewirtschaftete, hatte er zunächst als demütigend empfunden. Doch im Verlauf des Sommers erkannte er, dass er seinen leichteren Schritt auch ihr zu verdanken hatte. Ihre Melancholie war wie weggeblasen. Sie hatte zu sich gefunden und stand nun hier, an seiner Seite, mit derselben Erde an den Fingern, denselben Gedanken im Kopf. Wie viele Reihen rote Kartoffeln sollen wir nächstes Jahr setzen? Braucht das Nordfeld Kalk? Soll die neue Henne erst einmal ein Dutzend Küken großziehen, wenn sie zu legen beginnt? Das Schicksal der Farm, ihr eigenes Geschick, ihr gemeinsames Glück – all das hing nicht mehr an ihm allein. Schau einmal, was wir geschafft haben, sagte sie eines Morgens zu ihm und wies auf die Reihen von Radieschen, Kohl, Rübchen und Salat.
Mit der Flinte in der Armbeuge trabte Garrett den Fahrweg entlang, bis er Jack eingeholt hatte. «So ein Jahr kriegen wir bestimmt nie wieder», meinte der Junge. Er blickte über den Acker und schüttelte staunend den Kopf. «Ist das zu glauben? Wir brauchen Regen – es regnet. Wir brauchen Sonne – die Sonne scheint.»
«Es war ein gutes Jahr.» Jack bückte sich, zog zwei Radieschen aus dem Boden und reichte eines Garrett. Sie wischten sie am Hosenbein ab und aßen sie schweigend.
«Ich weiß gar nicht, wie ich dir für all das danken soll, was du hier getan hast.» Jack warf das Grün in den Wald.
«Das war doch nichts weiter.»
«Oh doch, das war eine ganze Menge.»
Sie folgten dem Weg zum neuen Feld. Garrett ging voraus, die Schrotflinte über dem Arm, und zertrat Erdklumpen. Was gebt ihr meinem Jungen eigentlich zu essen?, hatte Esther scherzhaft gefragt. Auch Jack hatte bemerkt, dass Garrett im Verlauf des Sommers eine knappe Handbreit in die Höhe geschossen war. Die weichen, kindlichen Gesichtszüge waren beinahe verschwunden, das Kinn und die Wangenknochen stärker ausgeprägt. Auch im Verhalten war der Junge gereift. Er sah Jack gerade in die Augen, äußerte sich klar und deutlich und musste nur selten um etwas gebeten werden. George wollte es erst gar nicht glauben, er dachte, sie sprächen aus reiner Freundlichkeit so über seinen Sohn, aber als er zu Besuch kam, erkannte auch er die Veränderung. Vielleicht hätten wir die anderen auch zu euch rüberschicken sollen, sagte George und lachte. Doch Jack vermutete, dass der Junge sich wahrscheinlich nur deshalb so selbständig entwickeln konnte, weil ihm seine Brüder endlich einmal nicht im Nacken saßen. Garrett ließ sogar einen gewissen Stolz auf die Arbeit erkennen, die er hier auf dem Hof geleistet hatte.
Der Weg führte am Feld entlang und an einem Schwarzfichtenstand vorbei. Von dem abnehmenden Licht drang nicht allzu viel zwischen die schlanken, eng stehenden Bäume, und in ihrem Schatten war die Luft deutlich kühler. Eine schmale Grenze, nicht mehr als eine Wagenspur, trennte den Wald vom wohlbestellten grünen Feld, und Jacks Gedanken kreisten um die Arbeit, die er hier geleistet hatte. Da verhielt Garrett plötzlich seinen Schritt und kippte den Flintenlauf ab, als wolle er die Waffe laden. Jack blickte ihm über die Schulter. Als sich seine Augen auf die Entfernung eingestellt hatten, holte Garrett aus seiner Tasche schon eine Patrone hervor und schob sie mit dem Daumen in den Lauf.
«Nein! Warte!» Jack legte dem Jungen die Hand auf den Rücken. «Nicht.»
Garrett warf ihm aus dem Augenwinkel einen Blick zu und setzte das Gewehr an.
«Ich sagte, lass ihn laufen.»
«Den Fuchs? Aber warum?» Ungläubig kniff Garrett die Augen zu, um dann wieder über den Lauf zu peilen, als habe er sich verhört. Der Fuchs kam zwischen den Bäumen hervor und duckte sich auf den Weg. Jack war sich nicht sicher – ein Rotfuchs sah im Grunde aus wie der andere. Doch dieser war ganz genauso gezeichnet, die schwarzen Ohren, das Fell eher rot als orange, die schwarz bestrumpften Läufe. Er war alles, was er noch von ihr hatte.
«Lass ihn in Ruhe.»
«Den Fuchs?»
«Ja, verdammt noch mal. Den Fuchs. Lass ihn einfach in Ruhe.» Jack drückte den Gewehrlauf herab.
Das Tier nutzte seine Chance und schoss ins Kartoffelfeld. Einmal leuchtete die buschige rote Lunte noch zwischen
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