Das Schneemädchen (German Edition)
Arbeit die aus, die Faina in der bloßen Hand gehalten hatte – ein Stern mit sechs vollkommenen Zacken, die alle das gleiche Farnmuster zierte. Zwischen die Farne schoben sich die Zacken eines kleineren, darunterliegenden Sterns, und das sechseckige Herzstück bildete die Mitte.
Mabel saß tief über den Stickrahmen in ihren Händen gebeugt, als Jack, der noch das Pferd gefüttert hatte, endlich hereinkam. Es machte ihr nichts aus, dass er Abend für Abend länger ausblieb, auch wenn sie sich fragte, warum er sie mied. Seine Reizbarkeit war es, die ihr zu denken gab.
«Ist alles in Ordnung?», fragte sie und sah von Nadel und Faden hoch.
Er nickte ihr zu.
«Ich habe gesehen, dass wir gestern Nachtfrost hatten», sagte sie. «Schaffen wir es denn, alle Kartoffeln in nächster Zeit aus der Erde zu klauben?»
Ein weiteres schroffes Nicken.
«Ist Garrett schon zu Bett gegangen? Ich wollte ihm noch ein neues Buch zu lesen geben. Ich dachte, vielleicht etwas anderes von Jack London oder Die Schatzinsel . Wenn er nicht rechtzeitig damit fertig wird, kann er es ja auch mitnehmen.» Mabel biss den Faden durch und hielt die gestickte Schneeflocke auf Armeslänge prüfend von sich. Sie Jack zu zeigen, würde nur seinen Zorn erregen. Der Mantel, die gezeichneten Schneeflocken, jedes Wort über Faina ließen ihn steif werden und verstummen. Sie hätte nach dem Grund fragen können, doch sie fürchtete die Antwort. Lass es gut sein, sagte er gerne, und das tat sie.
Eine Woche später waren die letzten Kartoffeln in Rupfensäcken, und in der Früh deckte ein erster Hauch von Schnee das Land, so dünn, dass er bis Mittag fort sein würde. Gewiss dauerte es noch einige Wochen, bis der Winter wahrhaft Einzug hielt, dachte Mabel, und dennoch erfreute sie der Anblick. Rasch bereitete sie das Frühstück für Jack und Garrett und schlüpfte dann in Mantel und Stiefel.
«Wo willst du hin?», fragte Jack und kratzte die letzte Gabel voll Ei und Kartoffeln von seinem Teller.
«Ich dachte, ich mache einen kleinen Spaziergang, einfach nur, um mir den Schnee anzuschauen.»
Jack nickte, doch sie sah die Bedenken in den müden Falten um seine Augen. Die Enttäuschung würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Faina würde nicht zurückkehren. Das Kind war nicht das Wunder, das Mabel in ihm sehen wollte.
Mabel knöpfte den Mantel bis oben hin zu, zog eine Mütze und dicke Handschuhe an, dann trat sie hinaus. Es war wärmer, als sie erwartet hatte. Die Wolken hatten sich bereits verzogen, und die Sonne stieg durch die Bäume herauf. Die Pappeln und Birken hatten ihr Laub abgeworfen, der frische Schnee lag als dünner weißer Strich auf den Ästen. Mabels Stiefelabdrücke im Schnee legten Erde, braun gewordenes Gras und vergilbte Blätter frei. Hinter dem Stall und den Pappeln lagen die Felder in unberührtem Weiß. Sie überlegte, zum Fluss zu gehen oder dem Fahrweg zu den entlegeneren Feldern zu folgen, doch dann fiel ihr ein, dass es Garretts letzter Tag bei ihnen war. Den Winter über würde er wieder bei seiner Familie leben, und auch wenn sie ihn sicherlich in den folgenden Monaten das eine oder andere Mal zu Gesicht bekämen, war es doch so etwas wie ein Abschied. Sie wollte ihn ein Buch aussuchen lassen, das er mit nach Hause nehmen konnte.
Als sie zurückkam, war Garrett beim Abwasch.
«Nein. Nein, das tust du nicht. Nicht an deinem letzten Tag.» Mabel hängte ihren Mantel an den Haken neben der Tür. «Was sollen wir nur ohne dich anfangen, Garrett?»
«Ich weiß nicht. Ich könnte ja bleiben.»
«Damit wäre deine Mutter vermutlich nicht einverstanden», sagte Jack und stapelte die Teller neben die Spülschüssel. «Sie möchte ihren Jüngsten wieder zu Hause haben.»
Garretts Blick verriet seine Zweifel, doch er behielt sie für sich. In den vergangenen Monaten hatte er einen ordentlichen Schub in die Länge getan und sich auch sonst verändert, hatte viel Verantwortung auf der Farm übernommen. Abends sprachen sie über Pflanzensorten und die Wetterlage, über Bücher und Kunst. Mabel saß nicht mehr ausgeschlossen abseits, sondern beteiligte sich mit dem gleichen Eifer an der Debatte um die beste Rübensorte, mit dem sie den anderen die Museen beschrieb, die sie in New York besucht hatte.
Wer hätte gedacht, dass ein Grünschnabel einer alten Frau etwas beibringen könnte? Und doch war es Garrett, der sie zu den Feldern und damit näher an das Leben heranführte, das sie sich einst in Gedanken für Alaska
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