Das Schneemädchen (German Edition)
Tisch.
«Mabel? Was hast du vor?» Er stand in Socken da, sie schlug die Tür hinter sich zu.
Sie würde bald umdrehen. Es war Nacht, und es schneite. Weit konnte sie nicht kommen. Sie kannte den Weg nicht, hatte den Hof kaum je verlassen, es sei denn auf einem Wagen, den er lenkte.
Aber die Stille im Blockhaus machte ihm zu schaffen. Er zündete eine Laterne an, schritt vor der Tür auf und ab. Die alte, hölzerne Uhr auf dem Bord tickte Minute um Minute weiter. Endlich schlüpfte er in Mantel und Stiefel und griff nach der Laterne. Draußen fiel der Schnee so dicht, dass Jack keinen Meter weit sehen konnte, und Mabels Spuren waren verschwunden.
Kapitel 29
Das Gesicht nass von Tränen und Schnee, stolperte Mabel blindlings voran. Der kleine Lichtkegel der Lampe tanzte wild zwischen den verschneiten Bäumen. Eine Weile lief sie einfach nur in Richtung der Berge, und selbst dessen war sie sich nicht sicher, aber das hielt sie nicht auf. Ihr Rock schleifte durch den höher werdenden Schnee, Fichtenzweige ratschten ihr durchs Gesicht, und mehrmals drohte sie zu stürzen, doch sie verspürte weder Kälte noch Schmerz, nur das pulsierende Blut in ihren Ohren und heiße Wut, die Schritt für Schritt zu Gram erstarrte.
Sie wurde erst langsamer, als das Gelände in eine Schlucht abfiel, wo statt Bäumen nur noch Buschwerk wucherte; kräftige Äste schlängelten sich über den Boden wie Schlingen eines Fallenstellers. Die schwankende Lampe in der Hand, stieg sie über die Hindernisse hinweg oder duckte sich unter ihnen durch. Keins der Gewächse erreichte die Höhe eines Baumes, andererseits hatten sie auch keine Ähnlichkeit mit den Brombeersträuchern, die sie von zu Hause kannte. Manche Äste waren so dick wie Mabels Oberschenkel, an vielen von ihnen hingen noch trockene braune Blätter. Als Mabel an einem Zweig Halt suchte, blieb ihr ein Büschel winziger Zapfen in der Hand. Zwischen dem Strauchwerk fand sich hier und da Igelkraftwurz, der breiten grünen Blätter beraubt, nicht aber der Dornen. Stellenweise bildeten Äste und Büsche ein solch undurchdringliches Dickicht, dass Mabels wachsende Furcht ihr die Brust abschnürte – wenn sie nun nicht mehr herausfand?
Endlich ging es wieder leicht bergauf, zurück zu dem Bewuchs aus Fichten, Birken und vereinzelten Pappeln. Mabel blieb stehen und blickte auf den Weg zurück, den sie gekommen war. Von dem Blockhaus war nichts zu sehen, und jenseits des flackernden Lichtkreises, den die Lampe warf, herrschte schwarze Nacht. Die Haare klebten ihr feucht am Nacken, die Kleidung zog kalt und schwer an ihr. Doch sie würde nicht umkehren. Sollte er doch zu Hause sitzen und warten, ohne zu wissen, was vorging, so wie sie es viele, viele Stunden lang getan hatte. Sie würde das Mädchen finden und die Sache in die Hand nehmen.
Die Lampe hoch emporgereckt, spähte sie in den Flockenwirbel und sah im Lichtschein, dass der Schnee am Boden aufgewühlt war. Sie eilte zu den Spuren, folgte ihnen mit den Augen und versuchte zu erkennen, woher sie kamen und wohin sie führten. Konnten sie von dem Mädchen stammen? Aber in welche Richtung gingen sie? Sie war so blind vorangestürmt, dass sie nicht mehr wusste, wo ihr Haus war, wo der Fluss und wo die Berge. Irgendetwas schien ihr verkehrt an den Spuren, es war so viel Schnee gefallen, dass sie nicht sagen konnte, ob es Fußabdrücke waren oder nicht. Doch sie folgte ihnen.
Sie führten über eine umgestürzte Birke; beim Überklettern war ihr langer Rock ihr hinderlich. Als sie es endlich geschafft hatte, war sie klatschnass von Schweiß und Schnee, und vor Erschöpfung zitterten ihr die Beine. Beinahe im Laufschritt folgte sie dem Trampelpfad nach links, bis ihre Kehle brannte und ihre Lunge schier zu platzen drohte, doch sie gönnte sich nur eine kurze Verschnaufpause. In Gedanken sah sie das Mädchen vor sich, zusammengekauert vor dem Sturm. Mabel würde sie in die Arme schließen und nie wieder loslassen. Wie weit sie wohl schon gekommen war? Näherte sie sich allmählich den Gebirgsausläufern? Das Gelände war flach, doch ihrem Gefühl nach lief sie schon seit Stunden durch die Nacht.
Erst als Mabel wieder vor der umgestürzten Birke stand, die sie schon einmal überklettert hatte, wurde ihr bewusst, dass sie falsch gegangen war. Sie schalt sich eine verrückte Alte, die bei Nacht im Kreis durch den Wald lief und sich selbst hinterherjagte. Blind für alles um sich herum, war sie selber im Laternenlicht für jedes Lebewesen
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