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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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Fieber, traumgleich und fast schon wohlig.

    «Kannst du dich aufsetzen?» Jack hielt eine Feldflasche in der Hand. Sie fragte sich, wie lange sie wohl geschlafen hatte. Jenseits des Feuers war es immer noch dunkel.
    «Ich glaube schon.» Er nahm sie bei den Schultern und half ihr hochzukommen. Als sie nach der Feldflasche griff, glitt die Decke von ihrem bloßen Arm. Sie war nackt.
    «Vorsicht. Lass die nicht verrutschen», sagte er.
    «Was ist mit meinen Kleidern? Warum um alles in der Welt …»
    Er deutete zum Feuer, neben dem ihr Kleid an einem Ast hing, zusammen mit ihrer Unterwäsche. Näher bei den Flammen lagen ihre Stiefel mit der Öffnung zum Feuer.
    «Es ging nicht anders», sagte er, beinahe entschuldigend.
    Sie zwang sich zu kleinen Schlucken, statt das Wasser gierig in sich hineinzuschütten. «Danke.»
    «Ein paarmal habe ich dich nach mir rufen hören», sagte er. «Erst dachte ich, du wärst im Unterholz, aber es war nur eine Elchkuh mit ihrem Kalb. Dann bin ich über die Lampe gestolpert und wusste, dass du irgendwo in der Nähe sein musst.»
    Jack ging zum Feuer, nahm ihr Kleid vom Ast und schüttelte es aus. Dann kroch er wieder zu ihr unter den Baum.
    «Es schneit nicht mehr», sagte er und ächzte leise, als er sich an den Stamm lehnte und den Arm um sie legte. Sie dachte an seinen noch kaum verheilten Rücken. «Hat aufgeklart und ist kalt geworden. Du warst völlig durchnässt.»
    Mabel lehnte den Kopf an seine Brust. «Wie macht sie das?»
    Er antwortete nicht gleich. Hatte er ihre Frage verstanden?
    «Sie hat etwas Besonderes an sich», sagte er schließlich. «Vielleicht ist sie keine Schneefee, aber sie kennt sich hier aus. Besser als alle, denen ich bisher begegnet bin.»
    Bei dem Wort «Schneefee» zuckte sie zusammen, obwohl sie wusste, dass es nicht böse gemeint war.
    «Ich kann mir das nicht vorstellen – jede Nacht hier draußen zu verbringen. Wie konntest du sie nur … Ich bin nicht mehr wütend auf dich. Das ist es nicht. Aber wieso hast du dir so gar keine Sorgen um sie gemacht? Sie ist doch noch ein kleines Kind.»
    Er behielt das Lagerfeuer im Auge. «Als sie im Frühling nicht mehr gekommen ist, habe ich in den Bergen nach ihr gesucht. Ich war krank vor Sorge. Ich dachte, ich hätte einen furchtbaren Fehler begangen und wir hätten sie verloren.»
    «Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass ihr etwas zustößt», sagte Mabel. «So schön und tapfer und stark sie sein mag, sie ist und bleibt ein kleines Mädchen. Und ohne ihren Vater … ist sie hier draußen ganz allein. Wenn ihr etwas zustieße, trügen wir die Schuld daran, oder?»
    Jack nickte und legte erneut die Arme um sie. «Das ist wahr», sagte er.
    «Und das könnte ich nicht aushalten. Nicht noch einmal. Nicht nach …» Sie hätte erwartet, dass Jack sie zum Schweigen brächte, sich ihr entzöge, wieder zum Feuer ginge, doch er tat es nicht.
    «Ich habe es immer bereut, dass ich so wenig getan habe», sagte sie. «Nicht, dass wir das eine Kind hätten retten können. Aber dass ich nicht mehr getan habe. Dass ich nicht den Mut hatte, unser Baby in den Armen zu halten, es anzusehen und anzunehmen.»
    Sie blickte ihm ins Gesicht.
    «Jack. Ich weiß, es ist schon so lange her. Mein Gott, zehn Jahre sind es jetzt. Aber sag mir, ob du richtig von unserem Kind Abschied genommen hast. Ob du für das Kleine ein Gebet am Grab gesprochen hast. Bitte sag mir das.»
    «Für ihn.»
    «Was?»
    «Für ihn. Es war ein kleiner Junge. Und bevor ich ihn in die Erde gelegt habe, habe ich ihm den Namen Joseph Maurice gegeben.»
    Mabel lachte hell auf.
    «Joseph Maurice», wisperte sie. Ein Name, der zum Zankapfel geworden wäre und in beiden Familien Entrüstung hervorgerufen hätte – die Namen zweier Urgroßväter, der eine aus ihrer und der andere aus seiner Linie, jeder von ihnen ein schwarzes Schaf. «Joseph Maurice.»
    «Einverstanden?»
    Sie nickte.
    «Hast du ein Gebet gesprochen?»
    «Natürlich.» Er schien gekränkt ob ihrer Frage.
    «Was hast du gesagt? Weißt du das noch?»
    «Ich habe zu Gott gebetet, dass er unseren winzigen Sohn in seine Arme bettet und wiegt, wie wir es getan hätten, dass er ihn liebt und behütet.»
    Mabel stieß ein Schluchzen aus und umschlang ihn mit bloßen Armen. Er zog die Decke um sie zurecht, und sie hielten einander umfangen.
    «Ein Junge? Ganz bestimmt?»
    «Ich bin mir ziemlich sicher, Mabel.»
    «Merkwürdig, nicht? Da war das Baby so lange in mir drin, hat sich gedreht und

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