Das Schneemädchen (German Edition)
Stamm.
Die Kälte machte sich zuerst an ihrem Haaransatz bemerkbar, der feucht von Schweiß und geschmolzenem Schnee war. Sie kroch über ihren Nacken und von hinten an ihren nassen Beinen herauf, drang unter ihre Kleider, legte sich auf ihren Brustkorb, lief ihr Rückgrat entlang. Mabel wusste, was es war – der Anhauch des Todes, eine Sterbenskälte, die sich festsetzen und sie bis ins Mark gefrieren lassen würde. Wie um ihre Befürchtungen zu bestätigen, begannen ihre Zähne zu klappern. Erst war es nur ein leichtes Zittern ums Kinn, bei jedem Atemzug durch zusammengebissene Zähne, doch bald schlotterte sie am ganzen Leib und meinte, ihre Knochen rasseln zu hören.
«Jack.» Es war nur ein Flüstern, das aus ihren kalten Lippen drang. «Jack?» Eine Spur lauter. Niemals würde er sie hören. Wer wusste denn, wie weit sie von dem Blockhaus entfernt war? «Jack!» Sie kroch von dem Baum fort, bis keine Zweige mehr über ihr hingen, erhob sich und schrie, so laut sie konnte.
«Jack! Jack! Hier bin ich! Hörst du mich? Jack? Hilf mir! Hilfe! Jack! Hier bin ich! Bitte. Bitte.» Sie verstummte und horchte angestrengt, hielt eine Weile den Atem an, doch das einzige Geräusch war etwas, von dem sie nie geglaubt hätte, dass man es hören konnte – das unablässige, zarte Tupfen einzelner Schneeflocken beim Auftreffen auf ihrem Mantel, ihren Haaren und Wimpern, auf den Zweigen des Baumes. «Oh, Jack! Bitte! Ich brauche dich. Bitte.»
Sie schrie und schluchzte, bis sie heiser war und nur noch stimmlos krächzen konnte. Bitte, Jack. Bitte. Sie kroch zurück unter die Fichte, tastete nach den Zweigen, dem breiten Stamm, dem Bett aus Nadeln. Dort rollte sie sich zusammen, die Kleider klatschnass und kalt, und erschauerte in krampfhaften Zuckungen, während der Schnee auf den Ästen über ihr wuchs und wuchs.
Beim Erwachen hörte sie dünne Zweige brechen und sah Feuerschein im Dunkel; einen Augenblick glaubte sie sich zu Hause, eingenickt vor dem Ofen. Doch das konnte nicht sein. Es war zu dunkel und zu kalt. Jedes Glied schmerzte sie, und sie konnte sich nicht rühren. Etwas hielt sie nieder. Es war schwer und roch vertraut. Wie zu Hause. Aus dem Augenwinkel sah sie eine Bewegung vor dem Feuer. Eine gebückte Gestalt, die etwas in die Flammen schob, etwas über dem Knie zerknickte. Dann mehr Flammen. Die Gestalt wandte sich zu ihr um, stand ihr im Licht.
«Mabel? Bist du wach?»
Sie konnte nicht sprechen. Ihr Kiefer war wie versiegelt, jeder Muskel steif. Sie versuchte zu nicken, doch das tat weh.
«Mabel? Ich bin’s – Jack. Hörst du mich?» Nun kniete er neben ihr und strich ihr die Haare aus dem Gesicht.
«Ist dir schon wärmer? Ich habe das Feuer jetzt gut in Gang gebracht. Spürst du es?»
Jack. Sie konnte ihn riechen, den Duft von gespaltenem Holz und Wolle. Er langte um sie herum, zog etwas an den Seiten fest, als sei sie ein Kind, das er ins Bett stecken wollte, und jetzt wusste sie, was sie niederhielt. Sie war in Decken gewickelt. Wieder überkam sie Verwirrung. War sie etwa doch zu Hause, in ihrem Bett? Doch die Luft war so kalt, und es ging ein leichter Wind, und über ihr waren Äste und darüber Himmel, pechschwarz und voller Sterne. Sterne? Wo kamen die alle her, funkelnd wie Eiskristalle?
«Jack?» Es war nur ein Flüstern, doch er hörte es. Er hatte ihr schon den Rücken gekehrt, um nach dem Feuer zu sehen, kam aber wieder zu ihr zurück.
«Jack? Wo sind wir?»
Er räusperte sich – vielleicht der Vorbote eines Hustens – und sagte dann: «Keine Sorge. Das kriegen wir schon hin. Ich lege noch mehr Holz nach, dann wird dir wieder warm.»
Er stand auf, zog unter den Ästen den Kopf ein und stellte sich zwischen sie und das Licht und die Wärme des Feuers. Mabel schloss die Augen. Sie hatte etwas falsch gemacht. Er war böse auf sie. Ganz langsam kam es ihr wieder in den Sinn, eine schmerzvolle Erinnerung. Das Kind, der Schnee, die Nacht.
«Wie hast du mich gefunden?»
Er legte Holz nach, die Flammen schlugen höher und höher, bis sie ihre Hitze spürte und sein Gesicht sah. «Ich weiß nicht.»
«Wo sind wir? Sind wir weit weg von zu Hause?»
«Das weiß ich auch nicht genau.» Ihr Erschrecken traf ihn offenbar nicht unerwartet, denn er fügte an: «Es wird schon alles gut, Mabel. Wir müssen hier nur noch ein paar Stunden aushalten. Dann wird es hell, und wir finden den Weg.»
Seine Stimme verklang. Mabel trieb davon, versank in der Wärme und fühlte sich wie als Kind bei
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