Das Schneemädchen (German Edition)
Schnee, rieb dem Mädchen damit die Lippen ein.
Zu heiß, zu heiß, murmelte Mabel. Bitte hol mir noch mehr Schnee.
Jack stieß die Tür auf; der Wind vom Fluss trieb und verwirbelte den Schnee in alle Richtungen. Es war eine schauerliche Nacht. Faina würde im Nu patschnass sein, und der Sturm würde ihr das letzte bisschen Wärme aussaugen. Er wollte das Mädchen nicht gehen lassen, nicht wieder zurück zu diesem kalten, trostlosen Unterschlupf in den Bergen.
Du bleibst heute Nacht hier, sagte er, als er mit einer weiteren Handvoll Schnee hereinkam.
Mabel runzelte die Stirn.
Meinst du?
Ja.
Er war nicht so überzeugt, wie er sich anhörte.
Das Mädchen rutschte vor auf die Stuhlkante, die blauen Augen zusammengekniffen und grimmig.
Ich gehe.
Nicht heute Abend, sagte er. Du bleibst hier bei uns.
Oh ja, unbedingt, Kind. Hörst du nicht, wie es stürmt? Du kannst doch im Stall schlafen.
Jack sah verwundert zu seiner Frau. Im Stall? Wie kam sie nur auf den Gedanken? Es war eisig dort, fast genauso kalt wie im Freien, doch sie ließ nicht locker.
Da wirst du dich wohlfühlen, sagte sie. Wir haben sogar eine kleine Schlafkammer hergerichtet, für den Jungen, der uns diesen Sommer geholfen hat. Sie ist sehr gemütlich und windgeschützt.
Faina war aufgesprungen und sah Jack an. Sie sprach nicht, und doch war es, als schrie sie die Worte heraus. Du hast es versprochen. Du darfst mich nicht hier festhalten.
Was sollte er tun? Das Kind mit roher Gewalt zum Bleiben zwingen? Sie würde kämpfen wie ein Iltis in der Falle, würde schreien und um sich schlagen, vielleicht sogar beißen und kratzen, daran hegte er keinen Zweifel, und am Ende käme er sich selbst wie ein Untier vor.
Aber er konnte sie doch nicht in die einsame Wildnis zurückgehen lassen, nachdem sie sich blutbefleckt zu ihrem Haus durchgeschlagen hatte. Wenn sie sich nun verletzte oder zu Tode kam, obwohl er ihr Obhut hätte bieten können, würde er sich das nie verzeihen.
Faina hatte bereits die glänzenden Silberknöpfe an ihrem neuen Mantel geschlossen.
Bitte seid nicht böse, sagte sie.
Hörst du denn den Wind nicht?, fragte Jack.
Das Kind war schon bei der Tür. Er wartete auf einen Einwand von Mabel oder eine flehentliche Bitte.
Nun gut, sagte sie. Wenn es sein muss, dann geh. Aber du kommst wieder, ja? Versprich, dass du immer wieder kommst.
Feierlich, als werde ihr ein Eid abverlangt, sagte Faina, Ich verspreche es.
Jack sah ihr nach und glaubte sich in einem verstörenden Traum: dort das Kind mit den wirren blonden Haaren und dem Schneeflockenmantel und hier seine Frau, gefasst und einsichtig. Eine Weile stand er am Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Hinter ihm fuhrwerkte Mabel mit dem Geschirr und Resten ihrer Näharbeit herum.
«Wie konntest du das wissen?», fragte er.
«Hmmm?»
«Woher konntest du wissen, dass sie zurückkommt? Jetzt? Und überhaupt?»
«Es ist der erste Schnee draußen. So wie an dem Abend damals.»
Jack sah sie verständnislos an und schüttelte schwerfällig den Kopf.
«Erinnerst du dich nicht mehr? Der Abend, an dem wir das Schneekind gebaut haben. Aus Schneeflocken, so groß wie Untertassen. Weißt du es wieder? Wir haben einander mit Schneebällen beworfen. Und dann haben wir sie gemacht. Du hast ihr wunderschönes Gesicht aus dem Schnee geschnitten, ich habe ihr Handschuhe angesteckt.»
«Was redest du da, Mabel?»
Sie ging an ihr Regal und kam mit einem großformatigen Buch zurück, das in blaues Leder gebunden war und silbergeprägte Verzierungen trug.
«Da», sie schob es ihm über den Tisch hin. «Allerdings kannst du es nicht lesen. Es ist auf Russisch geschrieben.»
Jack nahm das Buch zur Hand. Es war überraschend schwer, seine Seiten schienen aus Blei zu sein. Ungeduldig blätterte er es durch.
«Was ist das?»
«Ein Bilderbuch …»
«Das sehe ich. Was hat das mit –»
«Es handelt von einem alten Mann und einer alten Frau. Sie wünschen sich sehnlichst ein Kind, können aber keins bekommen. Und dann machen sie in einer Winternacht ein kleines Mädchen aus Schnee, und sie wird lebendig.»
Jack wurde es flau im Magen, als sänke er in bodenlos tiefen, nassen Sand ein und fände trotz aller Bemühungen nicht zurück auf festen Grund.
«Hör auf», sagte er.
«Jeden Sommer zieht sie fort und kommt erst zurück, wenn es schneit. Verstehst du nicht? Sonst … würde sie schmelzen.» Mabel schienen ihre eigenen Worte nicht ganz geheuer, aber sie ließ sich nicht
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