Das Schneemädchen (German Edition)
beirren.
«Großer Gott, Mabel, was redest du da?»
Sie schlug ein Bild auf; es zeigte den alten Mann und die alte Frau auf den Knien neben einem wunderschönen kleinen Mädchen, das bis zum Rumpf im Schnee stand und silberne Juwelen im Haar trug.
«Siehst du?» Sie sprach wie eine Krankenschwester am Bett eines Patienten, ruhig und einfühlsam. «Verstehst du?»
«Nein, Mabel. Ich verstehe gar nichts.» Er schlug das Buch zu und stand auf. «Du bist ja nicht mehr bei Sinnen. Willst du mir ernsthaft erzählen, dieses kleine Kind, dieses kleine Mädchen sei eine Art Geist, so etwas wie eine Schneefee? Herrgott. Herrgott noch mal.»
Er stampfte durch die Hütte, wider Willen darin gefangen.
Mabel zog das Buch behutsam wieder zu sich herüber und ließ die Hände über den Ledereinband gleiten. Sie zitterte leicht.
«Ich weiß, es klingt hanebüchen, aber verstehst du denn nicht?», sagte sie. «Wir haben sie uns gewünscht, wir haben sie in Liebe und Hoffnung erschaffen, und sie ist zu uns gekommen. Sie ist unser kleines Mädchen, auch wenn ich nicht genau weiß, wie das sein kann. Aber sie stammt von hier, aus diesem Schnee und dieser Kälte. Kannst du das nicht glauben?»
«Nein. Das kann ich nicht.» Am liebsten hätte er Mabel bei den Schultern gepackt und geschüttelt.
«Warum nicht?»
«Weil … weil ich Dinge weiß, von denen du keine Ahnung hast.»
Nun hatte er sie erschreckt. Sie drückte das Buch an die Brust, ihre Lippen bebten.
«Was weißt du?»
«Himmelherrgott, Mabel, ich habe ihren Vater begraben. Er hat sich vor dem armen Kind zu Tode gesoffen. Sie hat ihn angefleht, es seinzulassen. Hat noch versucht, mit ihren kleinen Händen sein Gesicht zu wärmen, als er schon im Sterben lag. Ihr eigener Vater. Was meinst du denn, wo ich gewesen bin, all die Tage, in denen ich verschwunden war? Oben in den Bergen, ich habe versucht, ihr zu helfen. Hab ein Grab geschaufelt, verdammt, mitten im Winter.»
«Davon hast du mir nie erzählt.» Als hätte er ihr eine Lüge aufgetischt, diese schreckliche Geschichte nur erfunden, um die ihre zu widerlegen. So unerbittlich hielt sie an ihren Hirngespinsten fest. Jack mahlte mit den Kiefern, spürte die verkrampften Muskeln, verbiss sich den Ärger.
«Ich musste ihr versprechen, niemandem etwas davon zu sagen, auch dir nicht.» Es klang so schwächlich. Ein erwachsener Mann, der einem kleinen Mädchen so etwas versprach. Wie töricht war er gewesen.
«Gibt es eine Mutter dazu?»
«Auch gestorben. Als Faina noch ganz klein war.» Er war alt und müde und nicht imstande, dergleichen lautstark im Streit vorzubringen. «Es war wohl Schwindsucht. Faina hat gesagt, sie sei an einem schlimmen Husten gestorben, im Krankenhaus in Anchorage.»
Ihr Blick war leer, ihr Kopf bewegte sich fast unmerklich auf und ab; aus ihrem Gesicht war alles Blut gewichen. Er ging zu ihr hin, kniete sich neben ihren Stuhl, nahm ihre Hände.
«Ich hätte es dir sagen sollen. Es tut mir leid, Mabel. Wirklich. Ich hätte gern, dass es wahr wäre. Dass sie unser wäre, eine Elfe aus der Wildnis. Das hätte ich mir auch so sehr gewünscht.»
Die Zähne zusammengebissen, flüsterte sie: «Wo wohnt sie?»
«Was?»
«Wo wohnt sie?»
«In einer Art Hütte, halb in eine Bergflanke eingelassen. Es ist gar nicht mal so schlimm dort, glaub mir. Es ist trocken und sicher, und sie hat zu essen. Sie kommt selbst zurecht.» Er wollte das Mädchen gern so sehen, stark und trittsicher wie eine Bergziege.
«Ganz allein? Da draußen?»
«Ja natürlich, Mabel», sagte er eindringlich. «Was hast du denn gedacht, was sie tut, wenn sie nicht bei uns ist? Dass sie so etwas wie eine Schneeflocke ist, ein Schneekind? Hast du es dir so gedacht?»
Sie entriss ihm die Hände und erhob sich so heftig, dass ihr Stuhl umfiel.
«Hol dich der Teufel! Hol dich der Teufel! Wie konntest du nur?»
Ihr Zorn erschreckte ihn. «Mabel?» Er legte ihr die Hände auf die Schultern, wollte sie an sich ziehen, doch er spürte die Hitze ihrer Wut durch den Kleiderstoff hindurch.
«Wie konntest du nur? Sie da draußen vegetieren lassen wie ein halbverhungertes Tier? Mutterlos. Vaterlos. Ohne Essen und ohne Liebe. Wie konntest du nur?» Sie stieß ihn zur Seite und ging an ihm vorbei zu den Mantelhaken.
«Mabel? Was hast du vor? Wo willst du hin?» Er nahm sie beim Arm, doch sie schubste ihn weg, wickelte sich einen Schal um den Hals, zog Handschuhe und eine Mütze an und nahm dann die Öllampe von ihrem Haken über dem
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