Das Schneemädchen (German Edition)
gestrampelt, mein Blut mit mir geteilt, und ich dachte, es sei ein Mädchen. Dabei war es ein kleiner Junge. Wo hast du ihn begraben?»
«Im Obstgarten, unten am Bach.»
Sie wusste genau, wovon er sprach. Dort hatten sie sich zum ersten Mal geküsst, sich zum ersten Mal geliebt.
«Das hätte ich mir eigentlich denken können. Ich habe danach gesucht, als mir aufging, dass ich mich nicht verabschiedet hatte.»
«Ich hätte es dir schon gesagt.»
«Ich weiß. Manchmal sind wir doch ziemlich töricht, nicht wahr?»
Jack stand auf, um Holz nachzulegen. Als das Feuer munter brannte, setzte er sich wieder zu Mabel unter den Baum.
«Ist dir warm genug?»
«Ja», sagte sie. «Aber willst du nicht zu mir unter die Decke kommen?»
«Da würdest du nur wieder frieren.»
Sie ließ sich nicht abbringen, half ihm aus den klammen Sachen und schlug die Decken für ihn auf. Er brachte einen Schwall kalter Luft mit, und die raue Wolle seiner langen Unterwäsche kratzte sie an der bloßen Haut, doch sie rückte nur umso dichter an ihn heran, bis sie ihn ganz spürte, seinen hageren Leib, die Muskeln ausgezehrt vom fortschreitenden Alter, nur noch erschlaffte Haut und harte Knochen. Aber der Griff, mit dem er sie hielt, war immer noch fest. Sie legte den Kopf an seine Brust und sah in das lodernde Feuer, das Funken in den kalten Nachthimmel emporsandte.
Kapitel 30
Jack hätte am liebsten Augen und Ohren verschlossen, so sehr schmerzte es ihn, dass Mabel das Kind nur noch als schäbig gekleidete, schmächtige Waise aus Fleisch und Blut betrachtete. Ihr Staunen und ihre Ehrfurcht waren dahin. In ihren Augen war Faina keine Schneefee mehr, sondern ein verlassenes kleines Mädchen ohne Mutter und Vater. Ein verwildertes Ding, das ein Bad nötig hatte.
«Wir sollten uns im Ort nach der Schule erkundigen», sagte sie, nur wenige Tage nachdem Jack ihr die Wahrheit offenbart hatte. «Wie ich höre, hat die Bezirksverwaltung dem Gebiet einen neuen Lehrer zugewiesen. Der Unterricht wird im Keller der Pension abgehalten. Wir müssten sie morgens immer mit dem Wagen hinfahren, oder sie könnte auch ein paar Tage am Stück dort bleiben.»
«Mabel?»
«Das wird sie schon überleben. Wenn sie Monate allein in der Wildnis zubringen kann, werden ihr ein paar Übernachtungen im Ort sicherlich nichts ausmachen.»
«Ich weiß nur nicht, ob …»
«Und diese Sachen, die sie am Leib trägt. Ich werde mir Stoff besorgen und ihr ein paar neue Kleider nähen. Und richtige Schuhe braucht sie auch, statt dieser Mokassins.»
Doch so leicht ließ die Kleine sich nicht zähmen.
Ich will nicht, sagte sie, als Mabel sie zu der Wanne mit dem warmen Wasser führte.
Sieh dich doch an, Kind. Deine Haare sind wie Kraut und Rüben. Du starrst vor Dreck.
Das Mädchen sah sie finster an.
Mabel zog an dem zerschlissenen Ärmel von Fainas Baumwollkleid.
Das muss gewaschen werden, oder vielleicht gehört es auch einfach weggeworfen. Ich mache dir ein paar neue Kleider.
Die Kleine wich Richtung Tür zurück. Mabel ergriff sie am Handgelenk, doch Faina riss sich los.
«Mabel», sagte Jack, «lass das Kind gehen.»
Das Mädchen war tagelang fort, und als sie wiederkam, gebärdete sie sich scheu wie ein junges Pferd, was Mabel jedoch nicht zur Kenntnis nahm. Sie zupfte weiter an Fainas Kleidung und Haaren herum und wollte wissen, ob sie je zur Schule gegangen sei, je in ein Buch geschaut habe. Mit jeder neuen bohrenden Frage zog sich das Kind einen Schritt weiter zurück. Wir werden sie verlieren, hätte er Mabel gerne gewarnt.
Jack glaubte nicht an Schneejungfrauen aus dem Märchen. Und doch war Faina kein gewöhnliches Wesen. Sie war Himmel und Eis, weite Bergketten und endlose Wildnis. Man konnte sie nicht festhalten und auch nicht wissen, was in ihr vorging. Vielleicht verhielt es sich ja mit allen Kindern so. Ganz gewiss entsprachen er und Mabel nicht dem Bild, das ihre Eltern sich von ihnen gemacht hatten.
Doch da war noch mehr. Nichts band Faina an sie beide. Sie konnte verschwinden und nie mehr wiederkehren, und wer wollte sagen, dass sie je von ihnen geliebt worden wäre?
Nein, sagte Faina.
Ihr Blick schoss von Mabel zu Jack, und in dem blauen Aufblitzen sah er ihre Furcht.
Ich lasse nicht länger zu, dass du lebst wie ein wildes Tier, sagte Mabel. Resolut stapelte sie am Küchentisch Geschirr und kratzte Essensreste zusammen. Das Mädchen sah zu, ein wilder Vogel mit bang zuckendem Herzen.
Ab jetzt bleibst du hier bei uns. Es wird nicht
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