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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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mehr in den Wald ausgebüxt und tagelang fortgeblieben. Von nun an ist dies dein Heim. Bei uns.
    Nein, sagte das Kind wieder, mit mehr Nachdruck.
    Jack wartete nur darauf, dass sie davonflog.
    «Bitte, Mabel. Können wir das nicht später besprechen?»
    «Sieh sie dir doch an. Sieh sie doch nur einmal an! Wir haben so viel versäumt. Sie braucht ein reinliches Zuhause, eine Schulbildung.»
    «Nicht vor dem Kind.»
    «Wir sollen sie also heute Abend wieder zurück in die Wildnis laufen lassen? Und morgen und übermorgen ebenfalls? Wie soll sie sich in der Welt zurechtfinden, wenn sie nichts kennt als den Wald?»
    Soweit Jack es beurteilen konnte, fand das Mädchen sich sehr gut zurecht, aber es war sinnlos, darum zu streiten.
    «Warum?», fragte Mabel flehentlich. «Warum will sie da draußen bleiben, allein in der Kälte? Weiß sie denn nicht, dass wir gut zu ihr wären?»
    Das war es also. Hinter ihrem Ärger und ihrer Herrschsucht verbargen sich Liebe und Kränkung.
    «Darum geht es nicht», sagte er. «Sie gehört dorthin. Siehst du das nicht? Das da draußen ist ihr Zuhause.»
    Er griff nach Mabel, die eben eine Schüssel abräumen wollte, und nahm ihre Hände. Rieb mit den Daumen über ihre schlanken, schönen Finger. Wie gut er diese Hände kannte.
    «Ich gebe mir Mühe, Jack. Wirklich. Aber es geht einfach über meine Begriffe. Sie lebt freiwillig in Dreck und Blut und Eiseskälte, reißt wilde Tiere in Stücke und isst sie. Bei uns fände sie Wärme und Geborgenheit und Liebe.»
    «Ich weiß», sagte er. Wünschte er sich das Kind nicht auch als Tochter, mit der er prahlen, die er mit Geschenken überschütten konnte? Wollte er sie nicht in den Armen halten und sein Eigen nennen? Doch solche Sehnsüchte machten ihn nicht blind. Wie eine Regenbogenforelle in einem Strom offenbarte ihm auch das Mädchen mitunter blitzartig ihr wahres Wesen. Ein wildes, glitzerndes Etwas in dunklem Gewässer.
    Mabel entzog ihm ihre Hände und wandte sich zu dem Kind um.
    Du bleibst heute Nacht hier.
    Sie nahm die Kleine bei den Schultern, und einen Moment fürchtete Jack, sie würde sie schütteln. Doch dann strich Mabel ihr über die Arme und schlug einen sanfteren Ton an.
    Verstehst du? Und morgen gehen wir in die Stadt und erkundigen uns nach dem Schulunterricht.
    Das Mädchen bekam hochrote Wangen und schüttelte den Kopf. Nein, nein.
    Faina, das entscheidest nicht du. Es geschieht zu deinem Besten. Du kannst nicht ewig wie eine wilde Elfe umherschweifen. Eines Tages bist du erwachsen, und was dann?
    Nein.
    Schon stand das Kind in Mütze und Mantel an der Tür. Mabel trat auf sie zu.
    Wir tun das für dich, begreifst du das nicht?
    Doch im nächsten Moment war das Kind fort.

    Mabel ließ sich auf einen Stuhl sinken und presste die Hände im Schoß zusammen.
    «Begreift sie denn nicht, dass wir sie lieben?»
    Jack ging zur offenen Tür. Es war eine klare, stille Nacht, der Mond schien durch die Zweige. Er sah die Kleine am Waldrand. Sie war stehen geblieben und schaute zurück. Dann drehte sie sich um, lief wieder los und machte eine wegwerfende Geste, als wollte sie sich den Verdruss von den Händen schütteln. Schnee begann aufzuwirbeln.
    Schneeteufel. So hatten sie es als Kinder genannt. Vom Wind aufgerührte Trichter aus Schnee, die weißen Tornados glichen, aber diese hier waren den Händen des Mädchens entsprungen.
    Sie verschwand im Wald, doch die Schneeteufel kreisten weiter um sich selbst und wuchsen an. Jack beobachtete sie staunend, ja furchtsam. Der Schnee wirbelte zum Blockhaus hin, nahm mit jeder Umdrehung zu, bis er alles verschlang. Der Hof verdüsterte sich. Das Mondlicht erstarb. Der Wind heulte, und Schnee peitschte gegen Jacks Hosenbeine.

    Bis tief in die Nacht hinein wütete der Schneesturm um das Blockhaus, und Jack fand keinen Schlaf. Er starrte zur Decke der Schlafkammer empor und spürte Mabels warmen Körper an seinem. Er hätte sie wecken können, die Hände unter ihr Nachthemd gleiten lassen und ihren Nacken küssen, doch nicht einmal dazu konnte er sich aufraffen, er hatte zu viel anderes im Kopf. Er zwang sich, die Augen zu schließen, und befahl seinen Gedanken, Ruhe zu geben, wälzte sich von einer Seite auf die andere und stieg schließlich aus dem Bett, tastete sich durch die Dunkelheit in die Küche. Dort machte er Licht, schirmte es so gut wie möglich ab und nahm das Buch aus dem Regal. Am Tisch wendete er Seite um Seite mit Abbildungen und fremdartigen Lettern um.
    Mabel bemerkte er

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