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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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ist ein Platz frei, die Frau steht auf und setzt sich dorthin. Sie ist
weder jung noch alt, in mittleren Jahren. Ihr Lächeln ist hübsch. Sie hat die
Tasche geöffnet und etwas herausgenommen. Zunächst Kakaobutter, weil die Lippen im Flugzeug immer so
austrocknen, ist Ihnen das auch schon aufgefallen? , und dann einen Karton, den sie nun
öffnet. Sie holt ein Paar Turnschuhe mit einem rosa Rand heraus, für Mädchen.
    »Sind die nicht
schön?«
    Ich nicke.
    »Die hat mein Mann
aus New York mitgebracht, er ist beruflich oft dort.«
    Die Frau hält sich
die Schuhe an die Nase, riecht daran und streichelt sie.
    »Sehen Sie mal, es
gibt da einen Gag …«
    Sie lächelt, und ich
vermute, dass sie ein paar Probleme hat, sie sieht aus wie eine, die
Psychopharmaka nimmt, wie eine, die sich zudröhnt.
    »Sie leuchten, sehen
Sie?«
    Sie fährt mit den
Händen in die Schuhe, beugt sich zum Teppichboden hinunter und ahmt mit den
Händen Schritte nach. Die Schuhe haben tatsächlich kleine Lämpchen, die in der
durchsichtigen Gummisohle aufblinken.
    »In Italien gibt’s
die noch nicht.«
    »Sind die für Ihre
Tochter?«
    Sie antwortet nicht
gleich und riecht erneut an den Schuhen, vielleicht duften sie nach Erdbeeren.
    »Sie ist noch keine
Tochter.«
    Ich glaube, darauf
hatte sie es nur abgesehen. Sie gehört zu den Frauen, die auf Reisen nach einem
Trichter Ausschau halten, in den sie ihre Stimme stopfen können. Und an diesem
Morgen hat sie mich gefunden. Ihr Mann schläft, er hat gelernt, sich zu
schützen und seinen Kopf auf einem Kissen entschlummern zu lassen. Ich lasse
ihre Geschichte über mich ergehen. Sie und ihr Mann haben in zwei
aufeinanderfolgenden Sommern ein Mädchen aus Tschernobyl aufgenommen, eines von
denen, die kommen, um sich von der Verstrahlung zu erholen, eine Waise. Im
Waisenhaus brauchten sie einen Kühlschrank und einen Projektor, sie haben ihnen
beides geschenkt. Sie freundeten sich mit der Leiterin an. Jetzt besuchen sie
das Mädchen, Annuschka, und die Frau bringt ihr die Schuhe als Geschenk mit.
Die zwei sind zu alt, sie können sie nicht adoptieren, aber sie hoffen darauf, sie
in Pflege nehmen zu dürfen.
    »Unser Anwalt hat mit
einem ukrainischen Anwalt gesprochen.« Sie hebt die Hand, und ihr Daumen reibt
am Zeigefinger und am Mittelfinger: »Geld, es ist bloß eine Frage des Geldes. Da
unten kann man mit Geld alles regeln.«
    Annuschka ist sieben,
doch sie dürfen nur ein Kind ab neun Jahren in Pflege nehmen. Jetzt holt die
Frau noch zwei Finger hervor, sie zückt sie wie zwei Messer, ihre Stimme ist
ein jammerndes Flüstern.
    »Zwei Jahre … Was
sind schon zwei Jahre?«
    Wieder bewegt sie die
Schuhe, dann schüttelt sie mit einem nervösen Zucken, das ein Tick zu sein
scheint, zwei Mal den Kopf, sie verjagt etwas, einen wiederkehrenden Gedanken,
den sie oft verjagen muss, ich kenne diese Bewegung. Es gibt einen gemeinsamen
Code aller verhinderten Mütter.
    »Zwei Jahre … Ich
habe sogar versucht, meine Papiere zu fälschen, ich schäme mich nicht, das
zuzugeben. Sie zwingen einen ja regelrecht, gegen die Gesetze zu verstoßen.«
    Sie kommt mir jetzt
vor wie eine hässliche Kopie meiner selbst.
    Ich bestelle noch
mehr Sekt. Dabei frage ich mich, ob ich in diesem Flugzeug nicht die Frau
getroffen habe, die ich selbst einmal sein werde, ob das Leben das ist, was es
zu sein scheint, oder eher eine Strecke von Leuchtzeichen wie diese verdammten
Schuhe, wie die Lämpchen, die den Ausgang markieren.
    Die Frau redet und
redet.
    »Als Annuschka zu uns
kam, wusste sie nicht, was ein Schrank ist, sie hatte noch nie einen gesehen,
sie bekam es mit der Angst zu tun und versteckte sich unterm Bett. Wir haben
den Schrank abgebaut und sie ihre Sachen auf den Stuhl legen lassen, wie sie es
gewohnt war. Doch diesen Sommer wollte sie den Schrank wiederhaben, wir haben
ihn aus dem Keller geholt und wieder aufgebaut. Mein Mann hat geschwitzt wie
ein Schwein, Zum
Teufel mit dir ,
habe ich gedacht. Aber es war der schönste Tag unseres Lebens. Annuschka lachte
und hatte keine Angst mehr, sie wollte in den Schrank klettern, dann klopfen
und sehen, wie wir ihn aufmachten und sie befreiten.«
    Die Frau beugt sich
vor und lässt die Schuhe erneut auf dem Boden wandern, diese Sohlen, die in der
Bewegung aufleuchten. Für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, sie zu kennen,
diese Annuschka, die ich nicht kenne. Ich sehe sie mit ihren amerikanischen
Schuhen herumlaufen. Die gut für die Nacht sind, dafür, dass

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