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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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meiner Gedanken weg, und für einen
Augenblick ist es, als könnte alles in dem Abfluss hinter mir verschwinden. Ich
hebe den Kopf an, man reicht mir ein kleines, schwarzes Handtuch, und in diesem
großen Friseursalon im Stadtzentrum, der wie ein New Yorker Loft aussieht, gehe
ich zu den Spiegeln hinüber. Keine grobe Werbung für Tinkturen und Frisuren an
den Wänden, nur große, grau getönte Bilder, flüchtige Seestücke, die auf eine
tröstliche Zukunft hoffen lassen, in der alle normalen Menschen ausgestorben
sein werden und nur noch die Stylisten übrig sind.
    Ich warte mit meinen
nassen Haarbüscheln auf Vanni, den Chef dieser Oase für vom Smog und von
kleinen Traurigkeiten misshandeltes Haar. Es ist Mittagszeit, und es geht ein
bisschen drunter und drüber. Reiche Schnepfen unter den Trockenhauben,
Anwältinnen, Steuerberaterinnen und wuchtige Nutten, die auf irgendeinen
Politiker warten, denn das Parlament liegt gleich um die Ecke. Einer der
schwarz gekleideten Burschen legt mir einen Stapel Zeitschriften hin.
    »Möchten Sie etwas
lesen?«
    Ich habe eigentlich
mein Buch dabei. Doch ich will mich nicht konzentrieren, möchte im
Zwischenreich dümpeln, in diesem Glamouraquarium. Ich blättere in einer
Illustrierten, Werbung für Kleider und Lippenstifte, ein Beitrag über die
Wiederherstellung des Jungfernhäutchens, eine BH -Werbung, eine Reportage über eine Londonreise für Normalsterbliche,
Briefe von Frauen, die von Männern enttäuscht wurden. Dann bleibe ich hängen.
Ich betrachte das Foto einer Frau mit einem Kind auf dem Arm. Die rote
Titelzeile lautet: DER
STORCH KOMMT VON WEITHER .
    Ich lese ein
Interview mit einer Französin, die seit einer Krebsbehandlung unfruchtbar ist.
Ihre Schwester hat ihr eine Eizelle gespendet, die im Reagenzglas befruchtet
und dann in die Gebärmutter einer dritten Frau eingepflanzt wurde, einer jungen
Ungarin, einer Leihmutter, die sozusagen den Storch spielte. Ich lese den
Fachterminus für diese Möglichkeit: Ersatzmutterschaft . Ich denke an meine Mutter und an den
Suppenersatz, den sie in der Apotheke kaufte.
    Vanni kommt zu mir
und küsst mich auf die Wange, einen Kaugummi im Mund, er ist schwul, stämmig,
doch athletisch, und er läuft auf diesem Teppich aus Haaren barfuß wie ein Reeder
auf seiner Jacht. Er zieht meine Haarbüschel hoch und betrachtet sich zusammen
mit mir im Spiegel. Er hält den Atem an, schneidet los, berührt die Haare wie
ein Künstler sein Material. Er massiert mich mit seiner Expertenhand, und der
Schnitt nimmt Gestalt an.
    »Gefällt es dir?«
    »Es gefällt mir.«
    Er wirft einen Blick
auf die Zeitschrift, nimmt sich einen Aschenbecher und bleibt rauchend neben
mir stehen, rauchend und Kaugummi kauend. Wir reden über den Artikel, er sagt: »Wenn
man es recht bedenkt, hat auch die Jungfrau Maria Gott ihre Gebärmutter
geliehen.«
    Es regnet. Ein
Tropfen, der größer ist als die anderen, läuft an der Fensterscheibe herunter,
ich sehe ihm zu. Ein langer, wässriger Schnitt, der die Nacht zertrennt. Das
Atmen durch die Nase ist wie der Pulsschlag der Erde und dieser Tropfen eine
vorzeitliche Träne, die unsere Welt von der der anderen trennt.
    Heute Morgen hat mein
Vater Mandarinen mitgebracht. Bevor er zu uns heraufkommt, geht er immer über
den Markt ganz in der Nähe. Er schlendert herum, saugt die Gerüche ein. Das ist die gute Seite der Stadt , sagt er, die letzten Überbleibsel einer Menschheit,
die noch zusammenlebt. Der Rest ist Einsamkeit . Er hat jetzt einen Hund, einen
Jagdhund mit ausgefranstem Fell. So hat er einen guten Grund, zu einem
Spaziergang aus dem Haus zu gehen. Er stellt die braune Papiertüte ab, sie
erfüllt die Wohnung mit einem frischen Duft. Ein paar Vitamine , sagt er.
    Wir setzen uns alle
drei in die Küche. Wir schälen Mandarinen. Diego isst auch die Schalen, sie
schmecken ihm.
    Das Gepäck steht
bereit, noch offen. Diego hat seinen Rucksack vom Hängeboden geholt, er wollte
unbedingt den. Er kletterte die Leiter hoch und wäre beinahe gestürzt. Den
Rucksack warf er auf den Boden. Als er ihn aufhob, sog er seinen Geruch ein. Er
erkannte den Duft der Reisen wieder, der Nächte auf den Flughäfen, der Träume
und der Verletzungen.
    Das ist
meine alte Haut ,
sagte er.
    Der Hund meines
Vaters streicht um den Rucksack herum und schnüffelt ebenfalls.
    »Der Hund wird uns
doch wohl nicht ins Gepäck pinkeln, Papa?«
    »Komm her, Pane,
kusch.«
    » Pane? Wer nennt denn seinen Hund Brot? «
    »Ich habe auf

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