Das schönste Wort der Welt
in den Hörsälen der medizinischen Fakultät
hingen. Sie zeigten den Geschlechtsapparat des Mannes und der Frau. Man sah die
rosa Säcke des Hodens und der Eierstöcke, die Samenleiter, die Eileiter und
eine Unmenge von roten und blauen Fäden für die Arterien und die Venen. Ich
betrachtete den Querschnitt des riesigen Penis, weich wie ein hängender Rüssel,
und die Vagina in Dunkelorange, die wie das Innere einer Muschel aussah.
Traurigkeit stieg aus meinem Bauch auf und machte im Nacken Halt. Ich schielte
zu Diego hinüber. Er lächelte vor sich hin, dumm wie ein Schüler.
Eine Frau in einem
Kittel, der über ihrem üppigen, plumpen Körper spannte, rief uns auf. Der Arzt
saß hinter einem Beamtenschreibtisch, auf dem eine grünliche Glasplatte lag und
der zu groß für die bescheidenen Ausmaße des Zimmers war, hinter ihm hingen
zwei Vorhänge mit Volants und diverse gerahmte Ehrenurkunden.
Er stand auf, gab uns
die Hand und forderte uns mit einem Wink auf, uns zu setzen.
»Prego«, sagte er auf
Italienisch.
Oxana setzte sich
neben mich, sie dolmetschte, dass Doktor Timoschenko sich entschuldige, weil er
kein Italienisch spreche, er kenne nur wenige Wörter, habe jedoch die Absicht,
es zu lernen, weil jetzt viele Italiener kämen.
»Unser Land hat eine
Vorreiterrolle auf diesem Gebiet.«
Oxana übersetzte ohne
zu zögern und mit regloser Miene. Ich hatte den Eindruck, dass sie diese kleine
Ansprache, die sie in ein und demselben Tonfall fortsetzte, schon auswendig
kannte. Zu beiden Seiten des Zimmers hingen Bilder von lächelnden Kindern auf
dem Arm von lächelnden Müttern. Das war offenbar eine ähnliche Marschroute wie
in diesen Hotel-Thermen, wo man aus der Kälte in die Hitze kommt, von den
Steinen zum Öl. Erst der deprimierende Warteraum mit den schlaffen
Fortpflanzungsorganen, dann das aufheiternde Zimmer mit den Spitzengardinen im
Berghüttenstil und dazu diese glücklichen Mütter. Ich war angespannt und
versuchte herauszufinden, wo hier der Haken war.
Doktor Timoschenko
trug einen sauberen, doch leicht angegrauten Kittel, hatte mongolische
Wangenknochen und grau meliertes Haar voller Brillantine. Er sagte, wir könnten
getrost rauchen, wenn wir wollten.
»Wir rauchen nicht.«
Er zündete sich eine
Zigarette an und wartete.
Ich war es, die
redete. Ich erzählte unsere Geschichte. Von Zeit zu Zeit legte mir Oxana eine
Hand auf den Arm, um mich zu unterbrechen und übersetzen zu können. Ich
beobachtete sie, um zu erkennen, ob sie ihre Arbeit gut machte. Mit einer
schroffen Bewegung wandte ich mich an Diego, damit er mir die Unterlagen gab,
den gigantischen Packen von Ultraschallbildern, Analysen, herausgeschmissenem
Geld, ich zeigte dem Doktor das Foto von meiner Gebärmutter und alles andere.
»Ein Blindgänger«,
sagte ich. »Ein Gebärmutterblindgänger.«
Ich wartete darauf,
dass Oxana dieses Wort übersetzte. Der Doktor schlug die Mappe auf, sah sich
das Ultraschallbild an und nickte. Ich verzog den Mund. Das Fenster ging auf
einen Sportplatz hinaus, eine große Lagune mit einem alten Basketballkorb ohne
Netz. Ich sah dieses Eisenauge an und weinte.
Er ließ mich weinen,
ohne mit der Wimper zu zucken, offenbar war er auch daran gewöhnt. Harte
Schluchzer, Steine.
Ich stand auf und
ging zum Fenster, Diego folgte mir, wir umarmten uns hinter diesen beiden
Menschen, die wir nicht kannten. Wir schauten auf den Sportplatz und auf die
Reihe von Häusern dahinter, ohne Dach, alle gleich, sie sahen aus wie die Umkleidekabinen
einer verlassenen Badeanstalt.
Ich setzte mich wieder.
Ich war ruhig. Das Elend war vergangen, wie Nierengrieß, der sehr schmerzhaft
ist, wenn er abgeht, doch dann ist er wirklich weg, man ist dann nur noch ein
bisschen erschöpft. Eine riesige Frau kam mit einem dampfenden Samowar herein,
und wir tranken Tee. Wir erfuhren, dass der Arzt Französisch sprach, und
behalfen uns eine Weile damit, ohne Oxanas Hilfe. Dann verfiel er wieder ins
Russische. Er zog ein Schubfach auf und nahm einige Blatt Papier heraus.
Ich war jetzt
aufmerksam und hellwach.
Er zeichnete drei
Kreise, A, B und C, und über die Kreise ein Dreieck mit einem X. Er zeigte mit
dem Stift auf das X.
»Das ist Ihr Mann.«
Er sah Diego an und lächelte.
Die Mutter A war die
Spenderin der Eizelle, die mit der Samenflüssigkeit des Dreiecks X befruchtet und
dann der Leihmutter B eingepflanzt wurde. Jedes Mal zog er mit dem Stift einen kleinen
Verbindungsstrich zwischen einem Kreis und dem anderen, bis
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