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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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man sich nicht
verirrt. Mir fällt der Tag wieder ein, als ich Diego begleitete und er Kinder
aus Tschernobyl fotografierte, die gerade in einem Ferienlager in Ostia
angekommen waren. Ich hielt sie für radioaktiv.
    »Und Sie?«, fragt die
Frau.
    Ich fahre über die
Armlehne meines Sitzes und über das schwarze Brandloch einer Zigarette.
    »Haben Sie Kinder?«
    Ich bohre meinen
Finger in die alte Polsterung.
    »Noch nicht.«
    Sie lächelt und
seufzt.
    »Sie sind jung, Sie
haben noch Zeit.«
    Diego hat die Augen
aufgeschlagen, sieht nach, wie spät es ist, streckt die Arme hoch und reckt
sich.
    »Ihr Mann sieht aus
wie ein kleiner Junge.«
    Diego lächelt.
    Er hört die Frau
sagen:
    »Und? Wohin fahren
Sie so?«
    Er ist es, der über
meinen gesenkten Kopf hinweg antwortet.
    »In den Urlaub.«
    Er überlegt noch
einmal und lächelt.
    »Ans Schwarze Meer.«
    Auf dem Flughafen in
Kiew treffen wir unsere Dolmetscherin, Oxana, ein dünnes, hochgewachsenes
Mädchen. Sie steht in der Ankunftshalle starr in der Menge und umklammert ein
handgeschriebenes Schild mit unserem Namen. Sie hat die ernste Miene und die
würdevolle Haltung eines Soldaten. Als sie uns sieht, entspannt sie sich, wir
gehen auf sie zu und geben ihr die Hand. Sie lächelt schwach und neigt sich
etwas vor, um eine Verbeugung anzudeuten. Sie hat ihr Haar zusammengebunden,
trägt einen hellblauen Mantel, dessen zu kurze Ärmel die Handgelenke frei
lassen, und über der Schulter eine Basttasche. Sie erkundigt sich, wie unsere
Reise war. Ihr Italienisch ist gut, mit einem für uns amüsanten Akzent. Wir
folgen ihrem Zopf durch eine wogende Anakonda aus verwahrlosten Menschen, die
nicht so aussehen, als wollten sie verreisen, sie sind wegen der Wärme da, die
aus den Heizungsgittern dringt. Ich frage Oxana, was sich in den herrenlosen
Bündeln am Ausgang befindet.
    »Post.«
    »Wird sie denn nicht
zugestellt?«
    »Doch, früher oder
später schon.«
    Ein schnauzbärtiger
Mann schaut aus einem alten Fiat-Kleinbus, legt den Rückwärtsgang ein, öffnet
uns die Autotür und nimmt unser Gepäck. Zwischen all den leeren Plätzen setzen
wir uns irgendwohin. Oxana schiebt das Fenster auf, das uns vom Fahrer trennt,
sagt leise etwas zu ihm und setzt sich dann uns gegenüber, entgegengesetzt zur
Fahrtrichtung.
    »Haben Sie Dollars?«
    »Ja.«
    »Dollars sind gut.«
    »Und Lire?«
    Sie lächelt, will uns
nicht beleidigen.
    »Lieber Dollars.«
    Sie sieht uns an und
wartet auf unsere Fragen. Sie hat die etwas strenge Anmut einer
Balletttänzerin.
    »Wie viel Kilometer
sind es?«
    »Etwas über
einhundert.«
    Ich frage sie nur,
wann wir den Arzt sprechen können.
    »Noch heute.«
    Ich sehe Diego an:
»Wir fahren ins Hotel, stellen unsere Sachen ab und fahren dann gleich weiter.«
    »Ja.«
    Auch er mustert
Oxana, ihr ernstes, zu uns gerecktes Gesicht und ihre hohe, klare Stirn.
    Haarscharf fahren
Lieferwagen, Traktoren und Reisebusse auf der Landstraße an uns vorbei. Die
Straße zerschneidet bleiche Felder und dann endlose Ebenen voller noch grüner
Ähren.
    »Ist das Weizen?«
    »Ja. Tschetschenien
ist unser Öl, die Ukraine ist unser Korn.« Sie lacht. »Das hat Stalin gesagt.«
    Diego fragt sie nach
Gorbatschow, nach dem Danach, doch sie schüttelt den Kopf.
    »Ein Reinfall, ein
einziger Reinfall.«
    Diego sagt, es sei
doch nur normal, dass so ein Übergang Zeit brauche. »Es dauert vielleicht
zwanzig Jahre.«
    Oxana nickt, ihr Kopf
schaukelt auf dem Sockel des Halses.
    »Zwanzig Jahre … wie
ich.«
    »Sie sind erst
zwanzig?«
    Sie nickt. Ich habe
sie auf dreißig geschätzt. Vielleicht weil sie so dünn ist, so ernst.
    Seit einer Weile
liegen die Felder nun hinter uns, wir sehen nur noch baufällig wirkende
Fabriken. Die Stadt scheint kein Zentrum zu haben, nur Randgebiete. Oxana
steigt vor uns aus, begleitet uns und spricht mit dem Mann an der Rezeption.
    Unser Zimmer ist
komplett mit einem himmelblauen Atlasstoff ausstaffiert, steif und glänzend,
wie Plastik. Alles sieht gleich aus, die Vorhänge, das Kopfende des Bettes. Wir
stellen das Gepäck ab, waschen uns die Hände und schlagen die Tür hinter uns
zu.
    Das Ambulatorium war
nur wenige Häuserblocks vom Hotel entfernt, ein wuchtiges, schmuckloses Gebäude
in schönster sowjetischer Bauart. Wir fuhren mit dem Fahrstuhl in den zweiten
Stock. Dort warteten wir in einem Zimmer, die Füße auf einem weißen
Linoleumboden. An den Wänden einige Urkunden hinter Glas und zwei große,
laminierte Drucke, wie sie früher

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