Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
Vom Netzwerk:
Lebensmittelgeschäft war sonderbar verwaist. Viele Regale waren
leer. Eine Frau mühte sich mit einem Einkaufswagen voller Konservenbüchsen ab.
Velida schüttelte ihren kleinen Kopf und ging stolz weiter wie manche Vögel mit
geschwollenem Kamm.
    »Wie kommen die Leute
bloß dazu, dermaßen zu horten? Die sind ja alle verrückt geworden.«
    Ich fragte sie, ob
sie sich nicht auch ein paar Vorräte anlegen wolle, vielleicht gebe es ja ein
Problem, eine Protestaktion der Lieferanten, irgendwas, worüber wir nicht
informiert seien.
    Aber Velida kaufte
sogar weniger als sonst. Es gab einen ganzen Käse, den man hätte nehmen können.
Doch sie ließ sich nur ein winziges Stück abschneiden, gerade so viel, wie fürs
Abendbrot reichte.
    »Wir haben noch nie
gehamstert! Und wir werden es auch nie tun! Wenn die denken, dass wir
ihretwegen so weit herunterkommen, dann irren sie sich gewaltig!«
    Es dämmerte. Die
Leute waren wachsam und liefen dicht an den Häusern entlang, alle schienen es eilig
zu haben, nach Hause zu kommen. Versprengte Grüppchen von Demonstranten rannten
an unserem Fenster vorbei, als würde man sie jagen. Ich musste an die
Studentendemonstrationen von 1977 denken, an die Slogans, die Tumulte, die
plötzlichen Fluchten.
    Es wurde schlagartig
dunkel, die Sonne rutschte hinter die Berge, und zwischen den dichten, fernen
Wolken tauchte ein fadendünner Mond auf. Noch konnte man etwas erkennen, noch für
kurze Zeit. Schreie durchstachen die Finsternis. Ich zog meine Schuhe an und knöpfte
meinen Anorak zu. Diego war noch nicht zurück, ich wollte ihn suchen. Ich
konnte nicht länger dasitzen und düstere Schatten auf diese Abwesenheit werfen.
    Ich kam zur Allee.
Die Laternen brannten nicht, ich kam nur ein paar Meter weit, bevor mich ein
Milizionär anhielt, ich versuchte, etwas zu erklären. Er hörte mir gar nicht
zu, durchforschte das Dunkel mit weit aufgerissenen Augen, hob einen Arm und schrie:
» Natrag!
Natrag! «,
zurück … zurück. Als hätte ich wirklich zurück gekonnt!
    Ich bat Velida, mir
über Nacht ihre Katze zu überlassen, ich wollte nicht ohne ein Leben neben mir
schlafen. Ich zog mir einen von Diegos Pullovern über und ging ins Bett. Im
Morgengrauen dann die Schüsse. Anders als die früheren, näher, deutlicher. In
diesem Augenblick lernte ich, Warnschüsse in die Luft, ins Leere, von den
Schüssen zu unterscheiden, die im Fleisch stecken bleiben, abgegeben, um zu
töten. Die Katze hatte sich aufgerichtet, ein langer Hals und zuckende Ohren,
wie kleine Radare. Sie hatte das hässliche Pfeifen als Erste gehört. Verkroch
sich unterm Bett und begann zu maunzen, ein tiefes, rohes Miauen, das wie
Menschenlaute klang.
    Wir gingen nicht mehr
ans Fenster. Velida und Jovan hatten schon einen Krieg erlebt, ich nicht, und
doch wusste ich instinktiv, was zu tun war. Wir lehnten die Fensterläden an und
schlossen die Sichtblenden.
    Den ganzen Tag über
blieben wir zu Hause vor dem Fernseher und sahen, dass die Menschen inzwischen
ins Parlament eingedrungen waren. Im Radio lief ununterbrochen ein und dasselbe
Lied, Sarajevo,
meine Liebe .
    Am Abend kam Gojko.
Seine Haare standen hoch wie das Fell der Katze, und eines seiner Brillengläser
war kaputt. Er war zwei Tage lang zusammen mit einer unmenschlichen Menge im
Parlament eingeschlossen gewesen, in einem irrealen Klima, einem Klima der
Begeisterung, weil die Europäische Gemeinschaft Bosnien-Herzegowina anerkannt
hatte, und einem Klima der Niedergeschlagenheit angesichts der Kriegsdrohungen.
Man hatte Präsident Izetbegović
verhöhnt und den Männern der Spezialeinheiten der Polizei Beifall gespendet.
    Er erzählte mir, was
geschehen war. Aus einem der obersten Fenster des Holiday Inn , wo die Büros der Falken der
serbischen Demokratischen Partei lagen, hatte jemand zu schießen begonnen. Die
vor dem Parlamentsgebäude versammelten Menschen hatten sich auf den Boden
geworfen und wie eine verschreckte Viehherde versucht, sich einer hinter dem
anderen zu verstecken. Viele liefen los, um ans andere Ufer der Miljacka zu
gelangen, doch auch von dort wurde geschossen, wahrscheinlich vom jüdischen
Friedhof aus. Das hatte er als Gerücht auf der Straße aufgeschnappt. Der
Stadtteil Grbavica war nun von serbischen Milizen besetzt.
    Später meldete das
Fernsehen, dass ein junges Mädchen getötet worden sei, auf der Vrbanja-Brücke
erschossen, als sie versuchte wegzulaufen. Ich dachte an Aska und fragte mich,
ob dieses wachsbleiche Gesicht ein

Weitere Kostenlose Bücher