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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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Verteidigung, hieß es. Jetzt war
es zu spät, um sich zu fragen, wie es denn hatte kommen können, dass Sarajevos
Waffen auf Sarajevo gerichtet waren.
    Gojko gab die
Hoffnung nicht auf.
    »Das kann nicht mehr
lange so gehen … noch ein paar Tage, und wir haben es geschafft. Die Augen der
Welt sind auf uns gerichtet.«
    Er führte Scharen von
Journalisten durch die Stadt, damit sie die Granateinschläge und die passive,
unbewaffnete Zivilbevölkerung filmen konnten.
    »Wichtig ist, dass
die Welt erfährt, was hier vor sich geht.«
    Die Kaffeebars waren
noch voller junger Menschen, die ihre Meinung zum Besten gaben; Bier,
Zigaretten und sich überlagernde Stimmen. Freie Stimmen, die sich sicher waren,
gehört zu werden, die Berge zu überspringen und auf die Tische Europas zu rollen,
laut und deutlich.
    Diese jungen Menschen
glaubten noch, dass die Welt Ohren hat. Der alte Jovan nicht. Er war ein
serbischer Jude aus Sarajevo. Wenn er nach Hause kam, zog er sich die Schuhe
aus wie ein Moslem, aus Rücksicht auf seine Frau. Er las keine Zeitungen mehr
und hörte auch keine Nachrichten. Er saß stundenlang da und starrte auf seine
Füße in den Wollpantoffeln.
    Es war Mai. Der Monat
der Primeln und des blühenden Löwenzahns, der kleinen Schwalben am Ufer der
Miljacka.
    Alle redeten sich
ein, es wäre nur ein einzelner Angriff gewesen, Nervosität, die schnell vorbei sein
würde. Wie ein Erdbeben, das sich beruhigt.
    Inzwischen verließen
die UNO -Offiziere das Altenheim in Sarajevo
und zogen nach Stojčevac um.
    Inzwischen brannten
das Postamt und die Marschall-Tito-Kaserne ab.
    Inzwischen waren
überall in der Stadt postierte Scharfschützen zu finden. Die tägliche
Vivisektion hatte begonnen. Die äußerst präzisen Zielfernrohre verfolgten die
Menschen, bis die Farbe ihrer Augen und der Schweiß unter ihrer Nase zu
erkennen waren.
    Wer waren die dort
oben? Tschetniks,
Bestien . Leute
von außerhalb oder Leute, die aus der Stadt entwischt waren? Junge Burschen,
die in die Berge hochgeschlichen waren, um sich mit dem Teufel zu verbünden und
ihre Studienkameraden umzubringen, ihre langjährigen Freunde …
    Velida hielt sich die
Augen zu, ihr Rücken noch immer gerade.
    »Das ist nicht wahr,
das kann nicht wahr sein.«
    Wir waren geblieben,
um den beiden Alten Gesellschaft zu leisten. Abends spielten wir an einem mit
grünem Tuch bespannten Tischchen Karten. Velida servierte Blaubeerschnaps und Honiggebäck.
Wir hörten die dumpfen Schüsse, die in der Nacht erlahmten. Es hagelte Granaten
in Dobrinja, in Vojničko Polje. Und in Mojmilo. Ich dachte an
Aska, an diese Art von Beton-Wohnmobil, in dem sie lebte, dort in Mojmilo,
dort, wo früher die Unterkünfte der Olympiateilnehmer gewesen waren.
    Für
mich ist die Paarung kein Problem …
    Das schien
Jahrhunderte her zu sein.
    Ich fragte mich, ob
in diesem Blick, der stets auf Wanderschaft war, in diesen Lidern, die wie
Flügel flatterten, das Schicksal schon besiegelt war. Jeden Tag studierte ich
in der Oslobodjenje die Listen der Toten und hatte Angst,
auf ihren Namen zu stoßen.
    Irgendwann kam Diego
mit einem ersten Todesopfer auf dem Film nach Hause. Eine Frau neben einer
Tüte, aus der Äpfel rollen.
    Er riss sich den
Tragegurt vom Hals und den Fotoapparat von der Brust, als würde er brennen, er
schleuderte ihn ärgerlich aufs Bett, so als wäre er wütend auf dieses
mechanische Auge, das ihn zwang hinzusehen, zu diesem Leichnam, den das Bild so
festhalten würde, für immer unbeerdigt. Seine Hände zitterten, als er die Filme
herausnahm und sie ins Dunkel einer Blechbüchse räumte.
    »Ich fühle mich wie
ein Totengräber, wie einer, der begräbt.«
    Unsere Kaffeebar gab
es nicht mehr. Sie lag in Schutt und Asche. Ein Granatenvolltreffer. Es blieb
nur ein gespenstisches Loch und futuristisch verwickeltes Metall zurück. Zum
Glück war keiner unserer Freunde dort gewesen. Die Explosion hatte sich am
frühen Morgen ereignet, es hatte lediglich eine arme albanische Hilfskraft
erwischt, die im Hinterzimmer geschlafen hatte.
    Auch unsere
Fensterscheiben gingen zu Bruch. Wir machten es wie alle anderen, wir nagelten
Plastikfolien an die Rahmen. Durch diese trüben Planen drang nur wenig Licht.
Abends kam die Dunkelheit schnell. Es gab keinen Strom mehr. Velida und Jovan
bewohnten nur noch den inneren Teil der Wohnung, dort saßen sie abends bei
einer Kerze und warteten, bis die Flamme im Wachs ertrank. Sie hatten nicht
vor, ihre Heimatstadt zu verlassen. Und auch

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