Das schönste Wort der Welt
ist
gleichzeitig gerührt, denn ich erzähle wirklich Blödsinn. Und Blödsinn rührt
uns immer an. Bei allem anderen bleiben wir stark. Er war im Libanon, ich war
in Bosnien.
Ich erzähle ihm von
Pietro, von seiner Wut. Er sagt: »Pietro ist eifersüchtig, das ist normal.«
Er seufzt, und jetzt
hat er seine wohlklingende Stimme, funkelnd wie die Flamme auf seiner Mütze.
»Du bist umzingelt
von eifersüchtigen Männern.«
Ich gehe raus, um
Pietro zu suchen. Im Internetcafé. Vor den Bildschirmen hockende Jugendliche,
Zigarettenlicht. Ich durchstöbere den Raum mit den Augen. Dann gehe ich weiter
zur Tito-Allee. Unterwegs fällt alles von mir ab, alles. Ständig habe ich
Angst, ihn nicht wiederzusehen. Wie oft habe ich wie angewurzelt am
Küchenfenster gestanden und auf die Rückkehr dieses Motorrollers, dieses
Mopedhelms gewartet. Dann war ich nicht mehr ich selbst, ich war so wie jetzt,
eine Papierfigur in einem dunklen Blatt, in Erwartung der Schere, die sie
ausschneiden sollte. Giuliano ist gelassener als ich, Du bist viel zu ängstlich , sagt er, du ruinierst dir das Leben . Er hat recht. Jede Mutter hat Angst.
Doch meine Beklemmung ist anders, tiefer, einsamer.
Ich bin wieder auf
dem Teppich. Laufe jedoch umher, ohne mich wirklich niederzulassen in diesem
Sarajevo, wo die Vergangenheit schwer lastet und wie eine Konservendose am Fuß
scheppert.
Dann finde ich ihn,
er sitzt am Brunnen der Reisenden zwischen späten Tauben und Nachtgestalten.
Am selben Brunnen,
dem Sebilj, an dem Diego und ich Rast machten wie zwei Wanderer, die müde von
einer gerade erst beginnenden Reise waren. Diego schöpfte Wasser mit den Händen
… Es
heißt, wenn man von diesem Wasser trinkt, kommt man wenigstens noch einmal im
Leben nach Sarajevo zurück .
»Pietro …«
Ich fasse ihn nicht
an, folge ihm.
Er läuft mit
gesenktem Kopf neben mir her, in der Hand hat er ein Päckchen, ein rotes
Tütchen, das er in die Tasche steckt.
»Was ist das?«
Er antwortet nicht
und starrt auf seine Füße wie ein Goldsucher. Ich schnüffle an ihm, für einen
Moment habe ich Angst, dass er in dem roten Papier etwas vor mir versteckt.
Viele seiner Freunde kiffen, sie dröhnen sich schon am frühen Morgen zu. Doch
er riecht nicht nach Rauch, nein, wohl nicht.
Ich setze mich aufs
Bett und schraube die Tube auf. Er kommt zu mir, das T-Shirt über den Kopf
gezogen, der Rücken krumm. Seine entzündete Haut saugt die Kühlung auf, meine
Hände salben ihn, gleiten über diese jungen Flügel. Er entschuldigt sich nicht.
Die Zeiten des Entschuldigung,
Mama sind
vorbei, doch er atmet ruhig, wie ein Schäfchen, das seinen Frieden
wiedergefunden hat.
Es gab eine große
Massenkundgebung gegen den Krieg, zu der Friedensinitiativen aufgerufen hatten
und über die seit Tagen geredet wurde. Sarajevo war voller Menschen, viele
waren von außerhalb gekommen, vor allem Jugendliche. Der Parkplatz am Bahnhof
war mit Bussen überfüllt, seit den frühen Morgenstunden zogen die Demonstranten
durch die Stadt, riefen Slogans und aßen Brötchen wie Fußballfans bei einem
Auswärtsspiel. Die Rufe drangen von der Straße in unser Zimmer und weckten
mich. Ich ging zum Fenster und sah unten den Demonstrationszug. Später gesellte
ich mich zu Velida, wir aßen Quitten und schlürften Kaffee, gewiegt vom Aufruhr
dieser Menschenwoge, die eine ansteckende Energie verströmte.
Wir gingen auf den
Balkon und verbrachten fast den ganzen Rest des Tages damit, uns wie
Klatschtanten die Demonstranten auf der Straße anzuschauen. Von Zeit zu Zeit
erkannte sie einen Freund aus der Universität und winkte ihm zu. Es war wie bei
jeder anderen Friedensdemonstration auf der Welt. Eine friedliche Menge von
Studenten, von Frauen und von Familienvätern mit Kindern auf den Schultern, von
Bergleuten in ihrer Arbeitskluft. Über ihre Körper wellte sich ein langes,
weißes Spruchband mit der Aufschrift MI SMO ZA MIR , wir sind für den Frieden.
So viele Menschen
hatte ich das letzte Mal zur Eröffnung der Olympischen Spiele im Koševo-Stadion gesehen. Mir fiel die
Fackelträgerin wieder ein, die das Feuer entzündet hatte, die Majoretten und
der kleine Wolf Vučko, dieses alberne Maskottchen von
Sarajevo 84. Das alles schien eine Ewigkeit her zu sein. Jetzt gab es einen
anderen Wolf, einen, der nachts Warnschüsse auf die Sterne abgab, als wollte er
sie allesamt auslöschen.
Später, als die
Demonstranten vor das Parlament zogen, begleitete ich Velida bei ein paar
Einkäufen. Das
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