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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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Vorzeichen war.
    Inzwischen berichtete
der Jutel-Sprecher, dass es sogar zwei tote Mädchen gegeben hatte.
Studentinnen, die für den Frieden demonstriert hatten. Junge Lilien.
    Gojko zündete sich
eine Zigarette an, doch er nahm nicht einen Zug. Er schlug die Hände vors
Gesicht und begann heftig und rückhaltlos zu schluchzen. Ich starrte auf diese
Zigarette, die zwischen seinen Fingern abbrannte, irgendwann herunterfiel und
auf dem Boden verlosch. Es war ein schreckliches Heulen, roh wie das eines
Tiers. Mit diesen Händen vor dem Gesicht hielt er die Trümmer der tragischen
Zukunft fest, die bereits bei ihm angekommen war. Wenn ich es heute bedenke,
war dieses Heulen für mich der eigentliche Beginn des Krieges.
    Er fing sich wieder,
die Tränenströme versiegten und ließen ihn mit dem grauen Gesicht eines
Ertrunkenen zurück. Wie immer kümmerte er sich um mich.
    »Komm, wir suchen den
Fotografen.«
    Gojko fuhr ohne Licht
und mit der kaputten Brille auf der Nase. Über Nacht entstandene Barrikaden
teilten die Stadt. Wir überquerten die Miljacka, doch wir kamen nicht bis zu
den letzten Häusern am Fuß des Trebević.
Vermummte Männer überwachten die Lage in der Dunkelheit. Das blanke Entsetzen
lähmte meine Beine und fuhr mir in den Rücken wie ein langer Nagel, eine
Schussgarbe traf unser Auto, ein Kugelhagel, der in die Seitenwand drang. Wir
kehrten um.
    Ich erinnere mich
nicht mehr genau, wie es war … Erinnere mich nicht mehr genau, in welchem
Moment es war. Vielleicht erinnert sich niemand daran. Außer Sebina, sie sagte,
sie habe gerade die Simpsons im Fernsehen gesehen, diese fröhliche Familie von Witzfiguren. Das Programm
fiel aus. Sie lief zu ihrer Mutter, die am Küchentisch die Hausaufgaben ihrer
Schüler korrigierte.
    »Mama, was ist denn
los?«
    Mirna nahm die Brille
ab und sah ihre Tochter an, die wie angewurzelt in der Tür stand.
    »Ganz ruhig.«
    Aus den Bergen kamen
Donnerschläge. Es war das Leben, das nun dem Wahnsinn das Feld überließ. Noch
wussten sie das nicht, eng umschlungen standen sie da. Die Schulaufgaben
mussten korrigiert werden, und Mirna strich mit der Hand darüber … Aber sie
trieben schon in der Ferne wie die kleinen Leben, die sie geschrieben hatten,
wie dieser Tisch, und wie sie beide. Es dauerte nicht lange, dann schwatzten
die Simpsons mit ihren Zeichentrickstimmchen
weiter, mit ihren Stimmchen drolliger Cartoonmännchen.
    Nein, ich weiß nicht
mehr genau, wann der Faden der Normalität riss, wann selbst die Hunde flohen
und sich verkrochen.
    Wäsche hing auf der
Leine, es war Frühling, die Zeit des Hausputzes und der offenen Fenster. Hin
und wieder krächzte ein Rabe in den Straßen, niemand achtete auf ihn. Sarajevo
war eine friedliche Stadt, kein Mensch kümmerte sich groß darum, zu welcher
Volksgruppe der Wohnungsnachbar oder die Ehefrau gehörte. Man konnte sich
leiden oder eben nicht, je nach Sympathie und Geruch, wie an jedem anderen Ort
der Welt auch.
    Da waren all diese
Menschen auf der Straße. Da war dieser von vielen Armen getragene Spruch WIR SIND WALTER … Die ganze Stadt vereint wie in
einem einzigen heldenhaften Herz. Man schaute nach oben wie bei einer
Flugschau. Man spähte zu den Bergen. Wer hatte sich dort oben versteckt?
    Sie hatten
angefangen, die Häuser zu beschießen. Die ersten Granaten schlugen weit von uns
entfernt ein, wir hörten das Krachen, das wie aufgezeichnet klang, als käme es
aus den Plastikrillen des Radios.
    Velida fragte: »Wer
kann ein Interesse daran haben, uns umzubringen?«
    Die Granate schlug so
nahe ein, dass es mir vorkam, als wäre sie in meinen Bauch gefahren und hätte
mich durchgeschüttelt. Sie beschossen die Baščaršija. Wir Frauen starrten uns zu Tode erschrocken an. Das kleine Gesicht
Velidas in einer umnachteten Starrheit verkrampft, als wäre sie schon
gestorben.
    Die Tassen zitterten
und auch die Bücher. Die Amseln hatten sich unter einem Wattehäufchen
versteckt.
    Velida schrie:
»Jovan! Jovan!«
    »Ich bin hier.«
    Der alte Biologe
hatte sich nicht aus seinem Sessel fortgerührt. Er paffte eine von seinen
Zigaretten, seine Finger so vergilbt wie seine Haare. Gegenstände fielen aus
den Regalen. Die Fensterscheiben waren noch heil, vorläufig. Sie klapperten wie
meine Zähne. Irgendwann presste ich die Hand gegen mein Kinn, damit dieses
Tellereisengeräusch aufhörte. Ich hob auf, was aufzuheben war. Zog mich in mein
Zimmer zurück und klammerte mich an ein Kissen. Ich konnte den Lärm meiner
Zähne

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