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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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nicht abstellen und hatte entsetzliche Bauchschmerzen, genau wie bei den
Fehlgeburten. Eine Hand, die zugreift und alles wegreißt.
    Nach drei Tagen kam
Diego zurück. Er trat ins Zimmer und durchschnitt die Dunkelheit lautlos wie
ein Tier. Wir standen lange in einer kraftlosen Umarmung da, unbeweglich wie
Sandsäcke. Er schien mir zentnerschwer zu sein. Er war gerannt, war
verschwitzt, meine Wange an seinem Hals wurde nass.
    »Mein Liebling.«
    Er hielt sich die
Ohren zu und wiegte den Kopf leicht hin und her. Eine Granate hatte ihn taub
gemacht, und nun hatte er ein scharfes Rauschen im Kopf, wie einen Strudel. Er ignorierte
alles ringsumher und setzte sich aufs Bett. Er zog sich die Stiefel aus und
stieß sie mit letzter Kraft von sich. Dann sank er neben mir zusammen. Ich ließ
ihn schlafen. Ich schmiegte mich an seinen Rücken, um zu spüren, welchen Geruch
er an sich hatte … Es war sein Geruch, nur seiner, allerdings etwas stärker als
sonst, so wie damals, als er mit einer Grippe und Fieber im Bett gelegen hatte
und ich diesen Geruch nach Mann und Hund auf den Laken und am Kragen seines
Schlafanzugs gefunden hatte. Ich lag mit geschlossenen Augen im Halbdunkel. Er
war zurück. Unwillig holte er Luft, so als wäre da zu viel Atem, der ihm die Nase
verstopfte.
    Bei Tagesanbruch war
er schon wach, saß auf dem Bett und sortierte Filme.
    »Und Aska?«
    »Was?«
    Er schien sich überhaupt
nicht an sie zu erinnern und sprach wie von einem anderen Stern mit mir. Wieder
hielt er sich die Ohren zu. Und schüttelte den Kopf, wie man eine Spardose
schüttelt. Er sah mich an.
    »Es ist nichts
passiert.«
    Fast entschuldigte er
sich und sagte mit einem traurigen Lächeln: »Tut mir leid, höhere Gewalt.«
    Sie hatten in der
Pension zusammen mit den wenigen anderen Gästen festgesessen und die Stunden
ungefähr so wie wir verbracht, wie alle in Sarajevo, wie angenagelt vor dem
Fernseher im Frühstücksraum, wo es inzwischen nicht eine heile Tasse mehr gab,
weil die Geschütze nur wenige hundert Meter entfernt in Stellung gebracht
worden waren.
    Er schüttelte den
Kopf wegen des Geräuschs, das er noch immer in sich hatte, und konnte es noch
nicht fassen.
    »Das ist Wahnsinn …
Das ist ein einziger Wahnsinn.«
    Ich umarmte ihn fest,
und hastig holten wir die schrecklichen Stunden auf, die wir voneinander
getrennt verbracht hatten.
    »Es heißt, es wird
nicht lange dauern, es ist bald vorbei …«
    Später machte ich
drei Kreuze. Es war nichts passiert, es hatte keine Paarung gegeben. Ich fühlte
mich befreit. Rote Geschosse fielen in die Nacht. Jener wie ein schmerzhafter
Nagel eingewachsene Wunsch fiel für immer von mir ab. In diesen schrecklichen
Tagen hatte ich alles befürchtet, was man nur befürchten kann, hatte ich mir
die beiden tot vorgestellt, unter Trümmern begraben in dem Bett, in das ich sie
getrieben hatte.
    Ich nahm seine Hand,
drückte sie gegen meine Brust und ließ ihn meinen Herzschlag spüren. Diego
öffnete sie und presste sie auf mein Herz. Wir waren ein absurdes Risiko
eingegangen, und jetzt bat ich ihn um Verzeihung.
    Es war mir eine Lehre
gewesen, die härteste meines Lebens.
    Ich sah ihn an, sein
Gesicht war zerkratzt, und seine Haare waren weiß vom Staub.
    »Hast du Fotos
gemacht?«
    »Nein.«
    Er ging ins Bad, ließ
Wasser in die Wanne laufen und tauchte unter, auch mit dem Kopf. Ich ging zu
ihm, seine Augen waren offen. Wir schauten uns durch das Wasser an, die
Bewohner zweier unterschiedlicher Elemente.
    »Liebst du mich noch?«
    Er tauchte auf und
spuckte Wasser.
    »Bis in alle
Ewigkeit.«
    Wir wollten sofort
abreisen, doch die Tage vergingen.
    Gojko war am
Flughafen gewesen. Die Leute stürmten die Flugzeuge, die in Butmir auf der
Rollbahn standen, die letzten Flüge, die die Stadt verließen, sahen aus wie
Tiertransporte, zusammengepferchte Menschen auf den Gängen und in den
Toiletten.
    Wir blieben zu Hause
vor dem Fernseher. Präsident Izetbegović
beruhigte die Bevölkerung, der Krieg in Kroatien werde nicht auf Bosnien
übergreifen. Er rief dazu auf, unbesorgt aus dem Haus zu gehen.
    Dabei war die Stadt
umzingelt. Auf jeder Anhöhe Kanonen, Mörser, Granatwerfer, Kalaschnikows,
Maschinenpistolen und Präzisionsgewehre.
    Die Armija , die ruhmreiche jugoslawische Armee,
die die Stadt hätte verteidigen sollen, hatte stattdessen die Kasernen geräumt.
Über Monate hinweg hatte man Stück für Stück alle Waffen weggeschafft, um sie
auf den umliegenden Bergen zu postieren. Zur

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