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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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Fingerkuppen zwischen meine Lippen wie in
einen weichen, doch unerreichbaren Stoff.
    Er lehnte sich an die
Wand und spielte im Dunkeln Gitarre.
    Später legten wir uns
auf eine der Matratzen. Diego rückte sich mit nur einer Bewegung zurecht, er
verschloss sich wie ein Embryo und schlief auch schon, mit verändertem Atem.
Mir war, als habe er sich nur in diesen Schlaf gezwängt, um Abstand zu mir zu
halten. Vielleicht hatte er auch einfach wie die anderen zu viel getrunken. In
dieser Finsternis, in der die Atemzüge mahlten, blieb ich als Einzige wach. Ich
stand auf, um eine Büchse voller Zigarettenkippen wegzuräumen. In einer Ecke,
neben dem Schuhhaufen, lagen ein paar Plastikkanister. Die Fenster waren mit
Planen verhängt, die sich bewegten, Kälte drang ein. Bald würde der Winter
kommen. Warum waren wir hier, warum lagen wir mit diesen Menschen auf dem
Boden? Das fragte ich mich und starrte auf Diegos Rücken.
    Im Morgengrauen
wachte ich von einem dumpfen Knall auf, vielleicht von einem Mörser, der in die
Trägheit meines spät begonnenen Schlafes hereinbrach, ich hatte Mühe, mich zu
bewegen. Es war niemand mehr da, alle weg. Nur Gojko war noch im Raum und
machte sich an einem Transistor zu schaffen.
    »Wo ist Diego?«
    »Er wollte dich nicht
wecken.«
    Wir aßen ein paar von
den Keksen, die ich mitgebracht hatte.
    »Weißt du, ob er sich
noch mit Aska trifft?«
    Er antwortete nicht
und sah mich nicht an.
    »Ist sie abgereist?
Ist sie am Leben?«
    »Sie ist noch in
Sarajevo.«
    »Sag mir, wo sie sich
treffen.«
    »Ich weiß es nicht,
ich weiß nicht, was Diego so treibt, ich sehe ihn so gut wie nie.«
    Er schlang die Kekse
hinunter, sein Bart war verkrümelt.
    »Ich habe dir noch
nie über den Weg getraut.«
    »Na wenn schon, was
soll’s.«
    Jetzt, mit etwas mehr
Licht, sah ich, dass Gojkos Blick dreckiger war als früher, von den
Kriegsmonaten verdorben. Seine Jugend war weg, war verschwunden. Er schleppte
ein schweres Paket von Enttäuschung und Bitterkeit mit sich herum, sogar sein Humor
hatte etwas Kaputtes und stank nach verbrannten Ameisen, wie alles. Da hatte
ich das Gefühl, dass auch ich schlagartig gealtert war.
    Nach ein paar Stunden
kam Diego zurück. Er hatte Wasser geholt, seine Arme waren steif von der Anstrengung,
vom Gewicht der Kanister, die er fast zwei Kilometer weit getragen hatte.
    »Jetzt kannst du dich
waschen.«
    Wir schlossen uns im
Bad ein, ich betrachtete die grau verfärbte Keramikwanne mit den unzähligen
gelben Äderungen und den Hahn, aus dem kein Tropfen mehr kam.
    Wir gossen Wasser in
eine Waschschüssel. Ich zog mich aus, und zum ersten Mal fiel es mir schwer,
ohne Kleider vor ihm zu stehen. Es war, als gäbe es keine Vertrautheit mehr
zwischen uns. Diego vermied es, mich anzusehen, hantierte weiter mit dem Wasser
herum und ließ es durch seine Finger laufen, als suchte er etwas, einen fernen
Lichtreflex, ein Vorüberziehen.
    »Sieh mich an«, sagte
ich.
    Er schaute mühsam
auf, langsam. Ich war nackt. Eine tote Pflanze ohne Rinde. Weißes,
geschnittenes Holz.
    »Was ist los?«
    »Du bist schön.«
    »Was ist los?«
    Er berührte meinen
Bauch, streckte einen Arm aus und streichelte meinen Nabel, doch ich fand seine
Hand abstoßend.
    Er berührte mich so,
wie er mich angesehen hatte, mit der gleichen Distanz, als wäre ich eine
Schaufensterpuppe.
    Ich hockte mich hin,
kauerte mich zusammen wie ein Ei.
    Er zog sich aus, kam
zu mir in dieser Wanne ohne Wasser, tauchte einen Schwamm in die Schüssel und
wusch mir den Rücken. Ich drehte mich um und sah ihn an, sah seine gelblichen Knochen
unter der dünnen, trockenen Haut, seinen unbewegten Penis zwischen den Haaren
wie in einem schwarzen Nest. Er sah aus wie ein Greis.
    »Warum bist du
hier?«, fragte ich.
    »Ich bin, wo ich sein
muss.«
    Am nächsten Tag
wachte ich mit den anderen im Morgengrauen auf. Diego stand gebückt neben dem
Koffer. Er packte seinen Rucksack voll.
    »Wem bringst du das?«
    Einigen Familien, die
er kenne, sagt er, alten Leuten, die nicht gehen könnten, Witwen und ihren
Kindern.
    Ich ziehe mich nach
ihm an und folge ihm zur Ćumurija-Brücke.
    Ich sehe die Stadt
bei Tageslicht. Kein einziges Haus ist mehr unbeschädigt, die Kuppeln der
Moscheen sehen aus wie im Schutt verlorene Metalldeckel. Die Rollläden in der Baščaršija sind geschlossen, in den Geschäften
hat man sogar die Regale herausgerissen. Ein Vogel fällt auf mich, ein müder
Vogel, der vielleicht keinen Ast mehr hat, auf den er sich

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