Das schönste Wort der Welt
setzen könnte.
Filme. Filme, einer
neben dem anderen auf dem Tisch dieses armseligen Zimmers, das nun unser
Gefängnis ist. Filme wie Patronen, wie Projektile. Wie schwarze Eier. Ich denke
mir ein Spiel aus, um die Zeit totzuschlagen, ich staple die Filme übereinander,
baue akrobatische Gebilde, die ich so stehen lasse, lege mich aufs Bett und
warte. Das Beben kommt nach einer Explosion, es läuft über den Boden, über die
Wände und steigt am Tisch hoch. Die Filme stürzen urplötzlich zusammen und
rollen über den Boden.
Wer weiß, ob sie
jemals ans Licht kommen, all die auf Zelluloidstreifen gebannten Bilder in den
kleinen, nunmehr verbeulten Metalldosen, die gut geeignet sind zum Zeitvertreib
für diese Zeit, die sich nicht vertreiben lässt, denn schon um drei Uhr
nachmittags sitzen wir im Haus fest. Nach den Geschäften auf dem Schwarzmarkt
und den Wasserkanistern hat es keinen Sinn, sein Leben noch länger aufs Spiel
zu setzen.
Inzwischen kommt es
mir so vor, als hätte ich diese Stadt nie verlassen.
Wir haben unser altes
Mietzimmer wieder bezogen. Velida hat mich betastet, als wäre ich ein Wunder,
eine noch unversehrte Fensterscheibe. Die letzten Monate haben sie ausgezehrt, sie
ähnelt jetzt ihren Amseln. Ihr Kopf wackelt fortwährend in einer kleinen
Bewegung, wie ein trostloser Kommentar. Ich habe ihr eine reichliche Menge an
Vorräten mitgebracht, die ich für sie zur Seite gelegt hatte. Als Jovan die
Taschenlampe sah, presste er die Lippen aufeinander, um nicht zu weinen. Denn
das hat ihm am meisten gefehlt, ein Lichtstrahl in diesen viel zu dunklen
Nächten.
Er geht nicht mehr
aus dem Haus, der alte Biologe, den ganzen Tag bleibt er in einem geschützten
Winkel neben dem Käfig der Amseln, die noch am Leben sind. Aber die Katze ist
tot, sie ging eines Morgens raus, streunte mit ihrem kaputten Schwanz ein
bisschen herum und kam nicht mehr wieder.
Jovan und Velida
sehnen den Frieden herbei, Tag für Tag. Doch sie glauben nicht mehr daran. Sie
sehen die weißen Panzerwagen der UNO , die unter ihren Fenstern stehen und nichts tun, so unnütz wie in
einem menschenleeren Park angekettete Velotaxis.
Ich habe Velida um
einen Besen und ein Scheuertuch gebeten und das Zimmer geputzt. Unentwegt hat
sie den Kopf geschüttelt.
»Seid ihr sicher,
dass ihr bei uns bleiben möchtet?«
»Ja.«
»Das Hotel für die
Ausländer ist besser, dort seid ihr in Sicherheit.«
Überall ist dieser
Staub, der nicht verfliegt, eine graue Schicht, fest wie Zement.
Velida greift sich an
die Brust und sagt, dieser Staub von einstürzenden Dingen sei nun auch schon in
ihnen, sei wie Kleister in ihren Lungen.
»Das ist der Staub
von Gebäuden, in denen wir gelebt haben … von der alten Viječnica, unserer Bibliothek, von der
Universität, an der wir gelehrt haben, und von den Häusern, in denen wir
geboren wurden.«
Die Küche ist jetzt
voller Blätter, grüne Schichten auf jeder Konsole. Velida sagt, Brennnesseln
seien als Pitafüllung ideal.
»Jeder in Sarajevo isst
Brennnesseln«, sie lacht, die makrobiotische Ernährung könne eine feine Sache
sein, falls sie es schaffen sollten, den Granaten zu entkommen.
Ihre
Biologiekenntnisse helfen ihr in der Hungersnot, sie gießt mir einen
Tannennadeltee ein.
»Er ist köstlich.«
Sie fragt mich, warum
ich zurückgekommen bin.
»Ich will bei Diego
sein, und er will hier sein.«
Ihre grünen Augen
trüben sich vor Rührung.
Auch sie hat Jovan
ihr Leben lang begleitet. Wenngleich sie sich jetzt für diese Liebe schämt,
jetzt, da junge Menschen sterben, da Kinder sterben, während sie beide immer
noch am Leben sind und sich immer noch auf den Mund küssen.
An den großen
Fenstern hängen keine Brokatvorhänge mehr, nur noch die angenagelten Planen,
und die Bilder an den Wänden hängen schief und haben allesamt kein Glas mehr.
Die schöne Wohnung ist enger geworden, sie haben ihre Betten in die Küche
getragen. Das ist der einzige beheizte Raum. Velida hat auf dem Schwarzmarkt
einen alten Ofen erworben, im Tausch gegen den Rubin ihres Verlobungsrings und
ihren Pelzmantel. Sie haben ein Loch in die Wand gebrochen. Jede Wohnung hat
jetzt so eine Öffnung, aus der Qualm austritt, Rauchabzüge, die wegen des
Krieges mit provisorischen Rohren reaktiviert wurden. Die Stadt ist ein großer
Campingplatz.
Ich habe Angst, aus
dem Haus zu gehen, und bleibe bei Velida in der Küche, ich betrachte ihren
mageren, gebeugten Rücken.
»Wie werdet ihr über
den Winter kommen?«
Sie
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